Granger Ann - Varady - 05
auch wenn er
bei mir kaum Beute holen konnte. Während ich mich bewegte, kam ein Wagen vorbei, und das Licht seiner Scheinwerfer erhellte kurz den Eingang zur Gasse. Ich sah, dass das
Geräusch von einem Jungen stammte, der vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein mochte.
Er kauerte in der Gasse an der Ziegelmauer des Gartens
zur Linken. Sein Gesicht hatte in der kurzen Zeit, in der
Licht darauf gefallen war, blass und ausgemergelt ausgesehen, mit großen Augen und struppigen dunklen Haaren.
Seine Kleidung war zu groß und zu weit. Er ähnelte Ion so
sehr, dass ich einen Schreck bekam – als hätte ich an diesem
Abend nicht schon genug durchgemacht. Ich riss mich zusammen und sagte mir, dass ich mir das nicht eingebildet
hatte und dass es kein Geist war, der in der Seitengasse kauerte. Trotzdem, der Eindruck seines Anblicks war so nachhaltig, dass ich nicht einfach weitergehen und ihn dort zurücklassen konnte. Ich musste mit ihm reden und seine
Stimme hören … um meiner selbst willen.
Ich trat in die Gasse. »Wer bist du?«, fragte ich krächzend.
Die Antwort lautete, wie vorherzusehen, dass ich mich
verpissen solle.
Geister fluchen nicht, wenigstens keine, von denen ich je
gehört hatte. Ich fühlte eine Woge der Erleichterung. Meine
Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt,
und jetzt konnte ich mehr erkennen als nur Umrisse und
den bleichen hellen Fleck, der sein Gesicht war. Er bewegte
sich erneut. Etwas raschelte in seiner Hand, und ich erkannte eine Papiertüte.
All meine Ängste, mein Schock wichen von einer Sekunde zur anderen heißer Wut. Ich sprang vor, packte die Tüte
und riss sie ihm aus der Hand.
»Hey!«, rief der Junge empört. »Was glaubst du, was du
da machst, he?«
»Sei nicht so dumm!«, brüllte ich ihn an. »Was glaubst
du, was du da machst?« Ich hielt ihm die Papiertüte samt
Inhalt vors Gesicht und schüttelte sie. »Du verkrüppelst
dein Gehirn und bringst dich am Ende mit großer Wahrscheinlichkeit selbst um!«
»Das geht dich doch überhaupt nichts an!«, brüllte er zurück. »Gib mir die Tüte!«
Ich nahm die Tüte an mich, sodass er sie nicht erreichen
konnte. Er rappelte sich hoch und wollte auf mich losgehen,
doch ich stand nur dort und brüllte ihn an. Ich bin nicht sicher, was ich gesagt habe. Ich weiß nur, dass ich wiederholt
habe, wie dumm er wäre und dass Schnüffler erbärmliche
Außenseiter seien und dass man ihn eines Morgens tot in
dieser oder irgendeiner anderen Gasse finden würde. Ich
brüllte noch andere Dinge, aber ich erinnere mich nicht
mehr genau, was es war.
Ich muss so wild geklungen und so wütend ausgesehen
haben, dass er Angst vor mir bekam. Er wich tiefer in die
Gasse zurück und duckte sich. »Was hast du bloß für ein
Problem?«, heulte er.
» Du bist mein Problem!«, brüllte ich. Doch ich meinte in
Wirklichkeit nicht ihn, natürlich nicht. Ich meinte Ion.
Meine Wut verebbte. Ich wandte mich um und ging davon. Ich glaube, er folgte mir ein paar Schritte, doch dann
kam er wohl zu dem Schluss, dass ich eine gemeingefährliche
Irre sei und dass es besser war, wenn er mich in Ruhe ließ.
Als ich vor meinem Haus ankam, hämmerte das Herz in
meiner Brust wie wild, und die Lunge schmerzte von tiefen,
abgehackten Atemzügen. Erwin kam mir entgegen. Er ging
zu seiner nächtlichen Arbeit, wo auch immer das sein
mochte. Zwei andere Mitglieder seiner Band warteten auf
ihn und luden Erwins Schlagzeug in den alten Lieferwagen,
mit dem sie gekommen waren. Der Schlagzeuger selbst,
ganz in schwarzes Leder und goldene Ketten gekleidet und
mit einer Panorama-Sonnenbrille auf dem Schädel, kam in
seiner einschüchternden Größe von fast einem Meter neunzig aus der Haustür.
»Hey, hübsche Lady!«, begrüßte er mich. Dann, als er
mein Gesicht sah, fügte er fragend hinzu: »Hattest du Ärger?«
»Nicht ich, jemand anderes«, antwortete ich ihm.
Doch das stimmte nicht ganz. Ion hatte keinen Ärger
mehr. Ion würde nie mehr Ärger haben. Ion war tot. Ob er
in Frieden ruhte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich wusste,
dass ich alles andere als inneren Frieden verspürte. Würde
er mich nun heimsuchen, mich daran erinnern, dass ich
versprochen hatte, ihm zu helfen – und nichts getan hatte?
Wurde ein Versprechen null und nichtig, wenn die Person
nicht mehr lebte, der man es gegeben hatte? Oder wurde es
dadurch zu einer noch größeren Verantwortung? Ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben, dass ein Wunsch
von
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