Granger Ann - Varady - 05
Antwort. Hatte mich jemand dort gesehen? Jemand, der mich kannte? Ich konnte lügen, doch
falls sie wusste, dass ich log, würde alles, was ich hinterher
sagte, nach noch mehr Lügen klingen.
Ich schluckte mühsam und traf eine Entscheidung. »Ja.
Rein zufällig. Warum fragen Sie?«
»Wir haben heute Morgen die Filme der Sicherheitskamera angesehen, Sergeant Parry und ich. Von der Kamera
am Fahrkartenschalter. Wir haben Sie beide auf den Bildern
erkannt.«
Einen Moment lang fühlte ich Erleichterung, weil ich beschlossen hatte, meine Anwesenheit nicht zu leugnen. Sie
hielt nicht lange vor. Es war reines Pech, dass die Sicherheitskameras an einem so überfüllten Ort ausgerechnet mich erfasst hatten. Es musste schwierig gewesen sein, in dem Gedränge überhaupt jemanden zu erkennen; doch da stand ich
offensichtlich, Fran Varady, und all meine Bekannten bei den
Mets hatten mich gesehen. Was war ich? Verhext? Meine Gedanken überschlugen sich. Wenn die Kamera beim Fahrkartenschalter mich aufgenommen hatte, hatte mich dann später eine andere Kamera ebenfalls aufgenommen, als ich aus
der U-Bahn-Station geflüchtet war? Ein paar Sekunden reichen kaum aus, um eine Erklärung zu erfinden, die sämtliche Eventualitäten abdeckt. Ich gab mein Bestes.
»Ich wollte ins West End«, sagte ich. »Ich wollte den Abend
dort verbringen, mal was anderes sehen. Als ich unten auf
dem Bahnsteig stand, bekam ich plötzlich keine Luft mehr.
Wegen meiner Erkältung, wissen Sie? Es war sehr stickig
dort. Also machte ich kehrt und ging wieder nach draußen
an die frische Luft.«
»Also haben Sie nichts von irgendeinem Tumult mitbekommen?«
»Doch«, gestand ich nervös. »Irgendetwas war passiert,
aber ich habe nicht abgewartet, um zu sehen, was es war.«
Ich zögerte. »War das der Junge, der vor den Zug gefallen
ist?«
Schweigen.
Als ich nichts sagte, redete die Morgan weiter. »Es ist nur
natürlich, dass Sie sich aus Schwierigkeiten heraushalten
wollen, Fran; aber wenn Sie etwas gesehen haben – irgendetwas –, dann sollten Sie mir erzählen, was es war.«
»Ich habe nicht gesehen, was mit diesem Jungen passiert
ist«, erklärte ich. »Jeden Abend benutzen Hunderte von
Leuten diese Station. Fragen Sie doch einen von denen. Warum ausgerechnet mich?«
Sie erhob sich. »Sie wissen, dass meine Tür offen steht,
Fran«, sagte sie. »Aber meine Geduld ist nicht grenzenlos.
Ich hoffe wirklich, dass Sie mir nichts vorenthalten.« Ihre
Stimme klang schneidend. Doch dann änderte sie plötzlich
ihr Verhalten und wurde wieder freundlich. »Ich hoffe auch,
dass es Ihnen bald wieder besser geht und Sie mit Ihren Proben weitermachen können und wieder zur Arbeit gehen.«
Ich saß in meinem Wohnzimmer und versuchte, so zu
tun, als hätte sie mich nicht beunruhigt. Vielleicht sollte ich
zu ihr gehen und ihr von Ion, von der Pizzeria, einfach allem erzählen. Ein wenig später fiel mir Bonnie ein. Ich fand
sie draußen vor der Hintertür, wo sie mich tadelnd und frierend ansah. Um mein Versäumnis wiedergutzumachen, gab
ich ihr eine Extraportion zu fressen.
Inzwischen hatte ich furchtbare Kopfschmerzen. Ich
machte mir ein heißes Getränk aus einer von Morgans Zitronen und nahm ein Aspirin. Ich fragte mich, ob möglicherweise tatsächlich eine Erkältung im Anzug war. KAPITEL 9 Ich bekam keine Zeit, um über das
nachzudenken, was passiert war. Am Sonntagmorgen erschien Susie Duke vor meiner Tür. Zu spät fiel mir ein, dass
sie irgendwas von einer weiteren Fahrstunde an diesem Morgen gesagt hatte. Ich wünschte, ich hätte früher daran gedacht. Dann hätte ich sie anrufen und absagen können. Jetzt
war sie hier, und ich konnte mich nicht mehr weigern, mit
ihr nach draußen zu gehen.
Ich sah den Wagen, der draußen vor dem Haus parkte.
Meine Stimmung sank. Ich glaubte nicht, dass ich diese
Kinder vom letzten Mal noch einmal ertragen konnte. Asoziales Benehmen in kleinem Maßstab, damit komme ich zurecht. Früher wurde ich hin und wieder selbst beschuldigt,
asozial zu sein. Doch wenn es ernster wurde, wenn Steine
ins Spiel kamen und man von allen Seiten umzingelt war …
Nun, das ist eine Situation, die jeder halbwegs vernünftige
Mensch meiden würde. Wenn Susie schon darauf bestand,
mir Unterricht zu geben, dann hoffentlich in einer etwas
ruhigeren, besseren Gegend – trotz der Tatsache, dass mich
die sogenannte Mittelklasse immer nervös machte und das
Gefühl auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Es bestand
stets die
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