Granger Ann - Varady - 05
er hat gehört, wie der Lastwagenfahrer den Dicken ›Max‹ genannt
hat; doch der Junge war nicht besonders gut in Englisch, wie
du sagst. Er hat wahrscheinlich noch weniger Englisch gesprochen, als er von diesem Laster gesprungen ist, als später,
zu der Zeit, als du ihm begegnet bist. Er glaubte, den Namen
›Max‹ gehört zu haben. Was er in Wirklichkeit gehört hat,
war ein Wort in einer fremden Sprache, das er nicht kannte
und das ein wenig wie der Name klang.«
All das besaß eine schreckliche, kalte Logik. Susie hatte
recht. Die Polizei befasst sich mit Fakten, und ich hatte keine Fakten – jedenfalls nicht von der Sorte, mit der die Polizei etwas anfangen konnte. Ich hatte nichts weiter als eine
wilde Geschichte von einem Jungen, der kaum Englisch
sprach und in der Dunkelheit einen Mann gesehen hatte,
kurz von hinten angestrahlt von der Innenbeleuchtung eines Wagens, einen Mann, von dem er behauptete, ihn später
wiedererkannt zu haben. Ich konnte mir lebhaft vorstellen,
wie Morgan meine Geschichte auseinandernehmen würde.
Doch auf die Stimme der Vernunft zu hören war noch nie
meine Stärke gewesen. Das war diesmal nicht anders.
»Wenn Ion sich so getäuscht hat«, sagte ich, »warum
wurde er dann vom Bahnsteig vor den einlaufenden Zug gestoßen?«
»Hast du gesehen, dass er gestoßen wurde? Vielleicht ist
er gestolpert und gefallen. Vielleicht war es ein Unfall. So
was passiert.«
»Das stinkt«, sagte ich kurz und knapp.
Susie schwieg. Sie beobachtete mein Gesicht. »Also
schön«, sagte sie nach einer Weile. »Wir müssen diesen Max
finden. Ohne Max haben wir überhaupt nichts.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, nicht du, Susie. Danke dafür, dass du deine Hilfe anbietest und alles.
Aber ich brauche keine weitere Bekanntschaft, die vor einen
Zug fällt.«
»Das würden sie nicht zweimal tun«, sagte sie mit der gelassenen Selbstsicherheit von jemandem, der sich mit den
Tricks der Gangster auskannte. »Nicht, nachdem sie es gerade erst getan haben – falls es so war, heißt das. Es wäre zu
offensichtlich. Ihr nächstes Opfer schalten sie auf eine andere Weise aus.«
Sie sagte nicht, dass ich möglicherweise das nächste Opfer
sein könnte. Das musste sie auch nicht. Ich schauderte.
Susie holte ein Päckchen Kaugummis aus der Tasche und
bot mir einen Streifen an. Ich lehnte dankend ab. Ich mag
Kaugummi nicht. Am Anfang ist es okay, aber nach kurzer
Zeit ist das Aroma weg, und ich habe dieses unangenehme
Ding in meinem Mund, wo ich es von einer Backe in die andere schiebe und von Sekunde zu Sekunde mehr verabscheue.
»Ich versuche mit dem Rauchen aufzuhören«, erklärte Susie, während sie einen Streifen auswickelte und in ihren Mund
schob. »Oder es wenigstens einzuschränken. Ich genehmige
mir nicht mehr als fünf Stück am Tag. Als Rennie starb, habe
ich dreißig geraucht. Du weißt ja, wie ich damals war, am Boden zerstört und alles. Aber jetzt geht es mir wieder gut.«
»Das ist schön zu hören«, murmelte ich.
Wir saßen wieder schweigend da. Susie kaute auf ihrem
Kaugummi, und ich schob düstere Gedanken hin und her.
»Du kannst Selbstmord nicht ausschließen, Fran«, sagte
sie schließlich. »Du musst den Tatsachen ins Auge sehen.
Der Junge war verzweifelt. Er hat seinen Bruder gesucht und
nicht gefunden. Oder vielleicht hat er herausgefunden, dass
ihm etwas zugestoßen ist, dass er tot ist. Er schuldete den
falschen Leuten Geld und konnte es nicht zurückzahlen. Er
hatte niemanden, an den er sich um Hilfe wenden konnte,
bis auf dich, und du warst eine völlig fremde Person. Du
hast diesen Max nicht gefunden. Vielleicht hat er gedacht,
dass du ihm seine Geschichte nicht abnimmst. Wie dem
auch sei, du hättest bestimmt nicht gewollt, dass er dir eine
Ewigkeit hinterherrennt.«
»Ich war ziemlich grob zu ihm, als wir uns das letzte Mal
gesehen haben«, gestand ich. »Ich habe ihm gesagt, er solle
mich mindestens eine Woche lang in Ruhe lassen.«
»Natürlich. Das ist nur allzu verständlich. Vom Standpunkt
des Jungen aus betrachtet hatte sich das Leben in diesem neuen Land nicht so entwickelt, wie er sich das vorgestellt hatte.
Er beschloss entweder, allem ein Ende zu machen, und warf
sich in der U-Bahn vor den einlaufenden Zug, oder es war ein
plötzlicher Impuls. Wie dem auch sei, er ist gesprungen.«
»Anna Karenina«, sagte ich düster. »Sie hat sich vor einen
Zug geworfen.«
»Genau. Menschen machen solche Dinge, Fran.«
»Ion nicht!«,
Weitere Kostenlose Bücher