Grant County 03 - Dreh dich nicht um
»Lena, hat Chuck Ihnen wehgetan?«
»Ich hätte Sie nicht rufen sollen«, sagte Lena zu ihr.
Jill Rosens Augen waren feucht, als sie Lena das Haar hinters Ohr strich. Wahrscheinlich sah sie sich selbst vor zwanzig Jahren.
»Bitte, gehen Sie«, sagte Lena.
Jill Rosen sah Sara an, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. »Sie haben das Recht auf eine Betreuerin an Ihrer Seite«, sagte sie. Seit sie auf dem Campus arbeitete, musste sie schon häufiger solche Anrufe erhalten haben. Sie kannte das System, auch wenn sie sich selbst nie hatte helfen lassen.
»Bitte, gehen Sie«, wiederholte Lena, sie hielt die Augen immer noch geschlossen, als würde die Frau dann verschwinden.
Jill Rosen wollte etwas sagen, doch dann entschied sie sich dagegen. Hastig verließ sie das Zimmer.
Lenas Augen waren immer noch geschlossen. Ihr Kehlkopf zuckte, und sie musste husten.
»Es klingt, als wäre deine Luftröhre geprellt«, sagte Sara.
»Wenn der Kehlkopf verletzt wird – « Sara brach ab. Sie zweifelte, ob Lena ihr überhaupt zuhörte. Ihre Augen waren so fest geschlossen, dass sie aussah, als wollte sie den Rest der Welt ausschließen.
»Lena«, sagte Sara. Sie musste an Tessa im Wald denken.
»Hast du Schwierigkeiten beim Atmen?«
Fast unmerklich schüttelte Lena den Kopf.
»Darf ich mal fühlen?«, fragte Sara, doch sie wartete die Antwort nicht ab. So sanft sie konnte, betastete sie den Kehlkopf nach Lufttaschen. »Nur geprellt«, sagte sie, »nicht gebrochen, aber es wird eine Weile wehtun.«
Lena hustete wieder, und Sara holte ihr ein Glas Wasser.
»Langsam«, sagte Sara und hielt das Glas an Lenas Lippen, bis es leer war.
Lena hustete wieder, dann sah sie sich um, als wüsste sie nicht, wie sie hier gelandet war.
»Du bist im Krankenhaus«, sagte Sara. »Hat Chuck dir etwas getan? Hat Ethan es rausgefunden? Ist es so passiert, Lena?«
Lena schluckte und zuckte vor Schmerz zusammen. »Ich bin gestürzt.«
»Lena«, hauchte Sara. Sie fühlte eine solche Traurigkeit, dass sie kaum sprechen konnte. »Mein Gott, bitte, sag mir einfach, was passiert ist.«
Lena ließ den Kopf hängen und murmelte etwas.
Sara fragte: »Was?«
Sie räusperte sich, endlich öffnete sie die Augen. Mehrere Äderchen waren geplatzt.
Sie sagte: »Ich will duschen.«
Sara betrachtete das Rape-Kit. Sie konnte es nicht noch einmal tun. Das war einfach zu viel für einen Menschen. Wie Lena dort saß, hilflos darauf wartete, dass Sara tat, was sie tun musste, es brach ihr das Herz.
Lena schien ihre Beklommenheit zu spüren. »Bringen wir es einfach hinter uns«, flüsterte sie. »Ich fühle mich so schmutzig. Ich möchte duschen.«
Sara rutschte von der Liege und ging hinüber an den Tisch. Sie fühlte sich taub, als sie nachsah, ob ein Film in der Kamera war.
Vorschriftsmäßig fragte sie: »Hattest du in den letzten vierundzwanzig Stunden Geschlechtsverkehr mit beiderseitigem Einverständnis?«
Lena nickte. »Ja.«
Sara schloss die Augen. »Mit beiderseitigem Einverständnis?«, wiederholte sie.
»Ja.«
Sara versuchte fest zu klingen. »Hast du nach dem Überfall geduscht oder eine Intimwaschung vorgenommen?«
»Ich wurde nicht überfallen.«
Sara ging zu Lena und stellte sich vor sie. »Da gibt es eine Pille, die ich dir geben kann«, sagte sie. »Du hast sie schon einmal genommen.«
Lenas Hand war immer noch in Bewegung, sie rieb sie am Bettlaken.
»Zur Verhütung im Notfall.«
Lena bewegte die Lippen, ohne zu sprechen.
»Man nennt sie auch die Pille danach. Erinnerst du dich daran, wie sie wirkt?«
Lena nickte, doch Sara erklärte es ihr trotzdem noch einmal. »Du musst jetzt eine nehmen und in zwölf Stunden noch eine. Es kann sein, dass dir übel wird. War die Übelkeit beim letzten Mal schlimm?«
Vielleicht nickte Lena, doch Sara war sich nicht sicher.
»Es kann sein, dass du Bauchkrämpfe bekommst, Schwindelgefühle, rote Flecken.«
Lena unterbrach sie. »Okay.«
»Okay?«, fragte Sara.
»Okay«, wiederholte sie. »Ja. Geben Sie mir die Pille.«
Im Leichenschauhaus saß Sara an ihrem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und wartete, während das Handy ihres Vaters klingelte.
»Sara?« Cathy war dran, sie klang besorgt. »Wo bist du?«
»Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Wir wissen doch nicht, wie man das Ding abhört«, sagte ihre Mutter. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid, Mama«, sagte Sara und sah auf die
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