Grant County 03 - Dreh dich nicht um
»Jemand sagte mir, Brian hätte ein Verhältnis mit einer Studentin gehabt.«
»O Gott«, seufzte sie und zog sich den Rollkragen über den Mund. »Fast wünschte ich, es wäre so. Ist das nicht furchtbar? Aber es hätte bewiesen, dass er in der Lage ist, sich für irgendetwas außerhalb seiner kostbaren Forschungsarbeit zu engagieren.«
»Er liebte seinen Sohn«, sagte Jeffrey. Er erinnerte sich an den Streit am Vortag. Jill Rosen hatte Keller vorgeworfen, er kümmere sich erst um Andy, seit er tot war.
»Seine Liebe verabreicht er portionsweise«, sagte sie. »Das Auto. Die Kleider. Der Fernseher. Er hat diese Dinge gekauft. Das war seine Art, Liebe auszudrücken.«
Sie schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, aber Jeffrey wusste nicht was. Er fragte: »Wo will er denn hinziehen?«
»Wer weiß?«, antwortete sie. »Er ist wie eine Schildkröte. Immer wenn etwas Schlimmes passiert, zieht er den Kopf ein und wartet, bis es vorbei ist.« Sie lächelte, als sie merkte, dass sie prompt ihren Kopf in den Rollkragen gezogen hatte.
»Visualisierung.«
Er lächelte zurück.
»Ich kann einfach nicht mehr. Ich kann so nicht mehr leben.« Sie sah Jeffrey an. »Schicken Sie mir eine Rechnung für die Sitzung oder soll ich gleich bezahlen?«
Wieder lächelte er. Er wollte, dass sie weiterredete.
»Ich glaube, in vieler Hinsicht ähnelt Ihr Job dem meinen. Sie hören den Leuten zu und versuchen herauszufinden, was sie eigentlich sagen wollen.«
»Was wollen Sie eigentlich sagen?«
Sie dachte über die Frage nach. »Dass ich müde bin. Dass ich ein Leben leben will – irgendein Leben. Ich bin bei Brian geblieben, weil ich dachte, es wäre besser für Andy, aber jetzt, wo Andy nicht mehr da ist …«
Sie begann zu weinen, und Jeffrey zog sein Taschentuch hervor. Zu spät sah er den Blutfleck darauf.
»Oh, das tut mir leid«, entschuldigte er sich.
»Haben Sie sich verletzt?«
»Lena hat sich verletzt«, sagte er und beobachtete Jills Reaktion. »Ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen. Sie hat eine Platzwunde am Auge. Jemand hat sie geschlagen.«
Die Frau sah besorgt aus, doch sie sagte nichts.
»Sie ist mit jemandem zusammen«, sagte er. Jill Rosen schien sich auf die Zunge zu beißen. »Heute Morgen war ich bei ihr zu Hause, und er war bei ihr.«
Jill Rosen sagte immer noch nichts, doch ihr Blick bat ihn, weiter zu sprechen. Ihre Sorge um Lena war offensichtlich.
»Sie hat eine Platzwunde am Auge und eine Prellung am Handgelenk, als hätte sie jemand hart angefasst.« Er wartete einen Moment. »Dieser Kerl hat Dreck am Stecken, Jill. Er ist ein sehr gefährlicher und gewalttätiger Mann.«
Sie saß vorn auf der Kante der Bank und flehte ihn mit den Augen an fortzufahren.
»Ethan White«, sagte er. »Kennen Sie den Namen?«
»Nein«, antwortete sie. »Sollte ich?«
»Ich hatte es gehofft«, sagte er, denn so hätte er eine klare Verbindung zwischen Andy Rosen und Ethan White gehabt.
»Ist sie schwer verletzt?«, fragte Jill Rosen.
»Soweit ich sehen konnte, nein«, sagte Jeffrey. »Doch sie kratzt sich immer wieder die Narben an der Hand auf. Sie hat geblutet. Aus der alten Wunde.«
Jill Rosen presste die Lippen zusammen.
»Ich weiß nicht, wie ich sie von ihm loseisen kann«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann.«
Sie sah in die Ferne, in Richtung der Studenten. »Sie kann sich nur selbst helfen«, sagte sie, und ihr Ton verlieh den Worten eine tiefere Bedeutung.
»War sie bei Ihnen in Therapie?«
»Sie wissen, dass ich Ihnen darauf keine Antwort geben darf.«
»Ich weiß«, sagte Jeffrey, »aber rein hypothetisch, wenn Sie dürften, würde es mir helfen, eine wichtige Frage zu beantworten.«
Sie sah ihn an. »Welche Frage wäre das?«
»Als wir am Fluss waren und Chuck den Namen Ihres Sohnes nannte, schien Lena überrascht, so als kannte sie ihn«, sagte Jeffrey. »Könnte es theoretisch sein, dass Lena, als sie den Namen ›Rosen‹ wiederholte, nicht Andy meinte, sondern Sie?«
Die Frau schien darüber nachzudenken, wie sie Jeffrey antworten konnte, ohne gegen das zu verstoßen, woran sie glaubte.
»Dr. Rosen …«
Sie lehnte sich auf der Bank zurück und zog den Kragen enger um den Hals. »Dort kommt mein Mann.«
Jeffrey versuchte seine Enttäuschung zu überspielen. Keller war noch zwanzig Meter entfernt, und Jill Rosen hätte Jeffreys Frage leicht beantworten können, wenn sie gewollt hätte.
Dann begrüßte Jeffrey den Mann. »Dr. Keller.«
Er schien verwirrt,
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