Grant County 03 - Dreh dich nicht um
»Bitte, Lena. Ich will einfach nur … Bitte.«
Sie lachte schnaubend, und er fühlte sich wie ein Vollidiot.
»Ich habe dir gesagt, ich rede mit dir«, sagte sie. »Wenn du nichts gegen mich in der Hand hast, gehe ich jetzt.«
Er lehnte sich zurück. Er wollte doch nur, dass sie ihm alles erklärte.
»Chief?«, sagte sie, wobei sie versuchte, dem Wörtchen so wenig Respekt wie möglich beizumessen.
Er blätterte durch die Akte und las noch einmal die Anzeigen vor, die nie zur Verhandlung gekommen waren. »Brandstiftung«, sagte er. »Schwere Körperverletzung. Autodiebstahl im großen Stil. Vergewaltigung. Mord.«
»Klingt wie ein Bestseller«, sagte sie und stand auf. »Danke für den Plausch.«
»Das Mädchen«, sagte er. »Die Frau, die vergewaltigt und totgeprügelt wurde, als er im Pick-up saß und zusah …« Sie blieb stehen. »Weißt du, wer das war?«
»Schneewittchen?«
»Nein«, sagte er und schloss die Akte. »Es war seine Freundin.«
Jeffrey saß im Wagen vor dem Haus der Studentenvereinigung und beobachtete eine Gruppe von Frauen, die Plakate an den Laternenmasten auf dem Vorplatz aufhängten. Sie alle waren jung und sahen gesund aus in ihren Jogginghosen und Sweatshirts. Jede von ihnen hätte Ellen Schaf fer sein können. Jede von ihnen konnte das nächste Opfer sein.
Er war hier, um Brian Keller zu sagen, dass sein Sohn vermutlich ermordet worden war. Jeffrey wollte die Reaktion des Mannes mit eigenen Augen sehen. Er wollte außerdem wissen, was Brian Keller vor seiner Frau nicht hatte sagen können. Jeffrey hoffte, Kellers Aussage würde ihm endlich eine Fährte liefern. Bis jetzt hatte er nur Lena, und Jeffrey wollte einfach nicht glauben, dass sie an der Sache beteiligt war.
Gestern Abend hatte er mit Sara über die Unterschiede zwischen Andy Rosens und Ellen Schaffers Fall gesprochen. Wer Andy Rosens Selbstmord inszeniert hatte, war verdammt klug vorgegangen. Doch bei Ellen Schaffer sah es anders aus. Selbst wenn der Mörder nicht mitbekommen hatte, dass sie den Zahn eingeatmet hatte, war der Pfeil auf der Wiese ein geradezu lächerlicher Wegweiser. Sara meinte, die Unterschiede zwischen beiden Verbrechen könnten möglicherweise sogar auf zwei Täter hinweisen. Jeffrey hatte diese These gestern verworfen, doch nachdem er Lena und Ethan heute Morgen zusammen gesehen hatte, schien ihm alles möglich.
Im Verhörraum hatte Lena ein Gesicht gezeigt, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Nachdem sie nicht nur Ethan Whites Vergangenheit verteidigte, sondern auch noch leugnete, dass er ihr wehgetan hatte, stellte Jeffrey alles infrage, was sie bis jetzt überhaupt gesagt hatte. Er war schon lange Polizist und wusste, dass gewalttätige Männer selbst starke Frauen einschüchtern konnten. Es war unglaublich, wie sich ihre Methoden ähnelten und wie leicht manche Frauen zu manipulieren waren. Tausende Frauen saßen im Gefängnis, weil sie für ihren Freund Stoff gelagert hatten. Und Tausende hatten das eine oder andere Verbrechen begangen, weil sie wussten, dass sie nur im Gefängnis vor ihm sicher waren.
In Birmingham, als Jeffrey noch Streife gefahren war, war er bestimmt zehnmal zu einer Frau gerufen worden. Sie leitete die PR- Abteilung einer internationalen Firma und hatte zwei Universitätsabschlüsse. Weltweit unterstanden ihr tausend Mitarbeiter. Jedes Mal, wenn Jeffrey an ihrer Tür stand, weil die Nachbarn die Polizei alarmiert hatten, öffnete sie mit blutendem Gesicht und zerrissenen Kleidern und sagte, sie sei auf der Treppe gestürzt. Ihr Mann war ein schmächtiger Typ, der sich selbst als Hausmann bezeichnete. In Wirklichkeit war er ein Säufer, der keinen Job behalten konnte und vom Geld seiner Frau lebte. Wie die meisten Missbrauchstäter war er nach außen charmant und liebenswürdig und begriff überhaupt nicht, was er seiner Frau antat. Heutzutage brauchte ein Polizist nicht mehr die Aussage der Frau, um ihren Ehemann wegen Missbrauchs festzunehmen, aber damals hatte das Gesetz den Mann geschützt.
Jeffrey erinnerte sich besonders klar an einen Abend. Er stand in der klirrenden Kälte vor der Tür und sah, wie ihr das Blut am Bein runterlief und sich am Boden sammelte, während sie darauf beharrte, ihr Mann sei ein liebenswürdiger Mensch und habe noch nie Hand an sie gelegt. Tatsächlich hatte Jeffrey nur ein einziges Mal gesehen, dass er sie anfasste. Es war auf ihrer Beerdigung. Er tätschelte ihr im Sarg die Hand, grinste Jeffrey an und sagte: »Unsere Treppe ist
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