Grappa 03 - Grappa macht Theater
mir die Eve näher an. Beate Elsermann, so hieß sie laut Programmheft. Eine junge Schauspielerin, die erst seit wenigen Monaten Mitglied des Bierstädter Ensembles war und zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass gab.
»Ist sie nicht wunderbar?«, wollte mein Stuhlnachbar wissen.
»Bisher hat sie ja noch nichts gesagt!«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Du gehst zum Regimente jetzt, o Ruprecht, –
Wer weiß, wenn du erst die Muskete trägst,
Ob ich dich je im Leben wieder sehe.
Krieg ist's, bedenke, Krieg, in den du ziehst,
Willst du mit solchem Grolle von mir scheiden?«
Eve hatte in flehendem Ton zu ihrem Verlobten gesprochen. Der Mann neben mir hing an ihren Lippen und sprach lautlos die Worte mit. Sein Entzücken drang sogar durchs Halbdunkel zu mir.
Ich war gerührt. Wahre Liebe lässt mein Herz ganz hurtig schmelzen, da bin ich sentimental.
Die junge Schauspielerin war hochgewachsen und sehr schlank. Ob das Blondhaar echt war, konnte ich nicht erkennen. Sie bewegte sich betont langsam durchs Bühnenbild, ihre Stimme war tief und verführerisch. Ihr Schmerz über den Verlobten, der laut Kleist in den Krieg ziehen soll, kam nahe an eine Satire heran. Das Mädel war eine Fehlbesetzung für die Rolle einer ländlichen Naiven, das bekam sogar ich mit.
Als Fanny Hill oder Leutnant Tamara Jagelovsk auf dem Raumschiff Orion wäre sie ein Knaller gewesen.
Endlich! Das Licht ging aus, die Pause begann. Das Raunen, das durch die Zuschauerreihen strich, war alles andere als freundlich. Es klang genervt und rachsüchtig. Das Volk und seine Kulturtitanen würden noch heute Abend die Exekution von Schauspielchef Cäsar Knulp vorbereiten.
Ein alter Mann mit vielen Feinden
Bevor ich vor einigen Jahren Nello von Prätorius persönlich kennenlernte, hatte ich schon viel über ihn gehört. Sein Ruf in Künstlerkreisen war außergewöhnlich. Dass Journalisten, wenn sie andere kritisieren, nicht immer Jedermanns Lieblinge sind – davon konnte ich auch ein Lied singen. Doch der Hass, der ihm nach seinen Theaterkritiken entgegenschlug, war von besonderer Qualität.
Nello tat so, als bekäme er davon nichts mit. Er spürte nicht die Wut, die Schauspieler, Regisseure und Kulturbeamte mühsam zügeln mussten, wenn sie ihm begegneten.
»Irgendwann, mein Lieber«, hatte ich geweissagt, »wird Sie jemand tot aus dem Kanal fischen. Oder erstickt in Ihrem Bett finden. Im Mund eine zusammengeknüllte Theaterkritik. Richtig schön in den Hals gedreht, damit die Luft wegbleibt. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihren Mörder finden werde!«
Nello hatte das nicht nachvollziehen können.
»Sie übertreiben wie üblich, Gnädigste! Warum sollte mich jemand umbringen? Einen alten Mann, der den Zenit seines Lebens schon längst hinter sich gelassen hat?«
»Sie haben zu viele Feinde! Seit Jahren schlachten Sie in Ihren Kritiken Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner. Vielleicht ja sogar zu Recht. Denken Sie zum Beispiel an Ihre letzte Konzertkritik. Sie haben dem Generalmusikdirektor geraten, bei einem Kur-Orchester als Trommler anzufangen, damit er lernt, wie ein korrekter Takt zu sitzen hat. Glauben Sie, dass er sich darüber gefreut hat?«
»Mittelmaß ist mir verhasst.« Das war seine Verteidigung. Er schüttelte sich vor Ekel und strich sein dickes weißes Haar zurück, nahm seine Rezitierhaltung ein, streckte die Bauchdecke nach vorn und pumpte seinen mächtigen Oberkörper voll Luft. Dann breitete er die Arme aus, als wolle er die neun Töchter des Zeus, die unter dem Begriff »Musen« bekannt sind, auf einmal umarmen.
»Das Theater ist eine Metapher des Ego im schlechten Verhältnis zu sich selbst. In der künstlerischen Verfremdung liegt die Wahrheit aller Wahrheiten.«
Um seinen Worten noch mehr Kraft zu verleihen, nahm er seinen Gehstock und klopfte im Rhythmus der Silben auf den Boden. Der Stock war aus schwarzem Ebenholz und hatte einen silbernen Entenkopf. Er half ihm beim Laufen, denn Nello von Prätorius hatte nicht nur einen Herzschaden, sondern auch noch ein künstliches Hüftgelenk. Doch das Humpeln passte zu ihm. Was wäre der Teufel ohne seinen Pferdefuß?
»Wieso kommt es«, fragte ich, »dass Ihr Kollege Gallo Pinto immer anderer Meinung ist als Sie?«
Das war seine schwache Stelle. Gallo Pinto trieb sich nämlich auch bei Theaterstücken und Konzerten herum und schrieb darüber in einer Zeitschrift namens »Melpomene«. Niemand in Bierstadt kannte seine Identität, was die Sache ungeheuer
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