Grappa 03 - Grappa macht Theater
aber nicht weiter.
Der Rechenschaftsbericht und die Vorstandswahlen ließen mich in einen Schlaf mit offenen Augen fallen. Auch eine Kunst, die Journalisten beherrschen.
Endlich betrat Lazarus Beutelmoser die Bühne. Der Schriftsteller wurde begleitet von dem Bibliotheksdirektor, der zunächst eine kurze Einführung in das Werk des Künstlers geben wollte. Während Beutelmoser fast glatzköpfig war, hatte sein Begleiter blonde Locken wie ein später Botticelli-Engel, der gerade einen erfolgreichen Raubzug durch Juwelierläden hinter sich hatte. Er trug nämlich an jedem Finger der Hand einen glänzenden Ring und im Ohr einen Brillanten.
»Seine archaische Sprachkraft führt zu hymnischen Höhenflügen«, jubelte der Büchereimann, »er ist ein Virtuose des Hintersinns und zündet ein literarisches Feuerwerk ungewohnter Fantasien.«
Nun habe sich der Dichter der Lyrik zugewandt und hier insbesondere der Form des klassischen Sonetts, an denen sich so mancher große Geist in den letzten Jahrhunderten versucht habe. Er verglich Beutelmoser mit dem Barockdichter Andreas Gryphius und glaubte auch Ähnlichkeiten zu Dante Gabriel Rossetti und Henriette Davidis zu erkennen.
Beutelmoser stellte sich in Positur. Er war nicht so folkloristisch wie sonst gekleidet, sondern hatte gedeckte Farben angelegt. Sein erstes Sonett aus dem Zyklus »Zwischen Windeln und Wahnsinn« hatte den Titel »Gebrochene Einsamkeit«.
Es herrschte Totenstille. Dann sprach der Meister folgende Worte:
Oh Frau! Du Mensch und Mutter, Hure und auch Herrscherin,
schweigsame Seele, vergessner Rauch aus dunklen Zeiten.
Dein Bild – zum Greifen nah, dann fern in unendlichen Weiten.
Ein lichter Tag! Du stehst am Horizont, ich weiß: Ich bin!
Oh Gott! Lass dieses Antlitz, das so sanft erröten kann,
doch tausend- und millionenmal in Töchtern weiterleben.
Lass diese Augensterne sich ganz in unsere Welt erheben
für immer! Für alle und für den Menschen namens Mann!
In ihr, da muss das Gute sein, das alle sich erflehn,
das uns befreit und glücklich macht für einen Augenblick,
uns Lust und Liebe gibt für einen ewig langen Tag.
Oh wäre wahr, was Maler zeigen und was Dichter in ihr sehn,
dass Schönheit mehr ist als ein zeitliches Geschick!
Verwesung fort und Trümmer weg und keine letzte Klag'!
Beutelmoser lauschte den letzten Klängen seiner Verse und verharrte regungslos. Niemand rührte sich. Es war wie eine Schweigeminute für die dahingeschiedenen Hausfrauen-Funktionärinnen. Als der Büchereichef zu klatschen begann, brauste Beifall auf.
»Wunderbar!«, schwärmte Elvira Bollhagen-Mergelteich. Die Begeisterung hatte ihr Hitzewellen beschert, die ihr rote Flecken aufs knöcherne Dekolleté malten. Ihr Sohn Bolle lag im Kinderwagen und schlief.
»Der hat auch nichts anderes gesagt als der Oberbürgermeister! Die Substanz war dieselbe!«, widersprach ich.
Nach einigen weiteren Gedichten war für mich die Veranstaltung beendet. Ich wartete, bis Beutelmoser seinen Scheck bekommen hatte, und folgte ihm ins Freie.
»Ich muss schon sagen, Herr Beutelmoser«, lobte ich, »Ihr Sonettzyklus hat mich tief erschüttert. Sie haben die Diskrepanz zwischen gut gemeint und gut gemacht virtuos aufgelöst. Herzlichen Glückwunsch! Was macht denn Ihr großer Roman, von dem wir neulich sprachen?«
»In vier Wochen kommt er heraus!« Der Applaus der Hausfrauen hatte ihn ganz benommen gemacht. Das lockerte seine Zunge.
»Mein Verleger spricht von einem Jahrhundertwerk.«
»Welcher Verlag bringt es denn heraus?«
»Kitschenheuer und Wiep. Eines der renommiertesten Verlagshäuser in Deutschland.«
»Dürfen Sie den Titel schon verraten?«
»Er heißt ›Die Geschichte von Adam und Eve‹«, verriet er, »doch es sollte noch nicht publiziert werden, Frau Grappa. Ich sage es Ihnen nur, weil wir uns heute zufällig getroffen haben.«
Eine feuchte Speichelfontäne sauste knapp an mir vorbei. Also doch Adam und Eve, dachte ich, mein Verdacht war richtig. Lazarus Beutelmoser hatte seinen Freund bestohlen. Doch es zu beweisen, war schwer.
Beutelmoser hatte das Originalmanuskript in seinem Besitz, die Kopie hatte er aus Nellos Wohnung gestohlen, ohne die Seite 113, die auf der Treppe gelegen hatte.
Beutelmoser war nicht dumm. Nach meinem Besuch in seiner Wohnung ahnte er bestimmt, dass ich ihm auf der Spur war.
Deshalb hatte er die Kopie des Romans aus Nellos Wohnung gestohlen, weil das Schriftbild von Nellos Schreibmaschine bekannt war. Einziger
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