Grappa 06 - Grappa und der Wolf
zuzuschreiben. Hast du dir wenigstens Kopien von den Schriftstücken gemacht?«
»Nein«, antwortete er kleinlaut. Der Grappa hatte seine Wirkung getan, Willis Zunge lag schwer in seinem Mund.
»Was wäre es denn gewesen?«
»Lasottas Unterschrift auf einer Quittung. Über 250.000 Schleifen.«
Jetzt fiel mir auch nichts mehr ein. Eine Weile schwiegen wir uns an.
»Weißt du was«, meinte Willi dann, »der Konkurrenzdruck bei diesen Kommerzsendern ist unglaublich stark. Jeder, der nicht einmal im Monat eine heiße Exclusivstory bringt, wird rausgebissen.«
»Du übst wohl schon für den Schadenersatzprozess«, mutmaßte ich, »das Ende deiner Leidensgeschichte fehlt noch. Haben sie dich rausgeworfen?«
»Und wie!«, lallte der nun ehemalige Enthüllungsreporter. »Fristlos, hilfsweise fristgerecht. Garniert mit Hausverbot und der Ankündigung, sich die Kosten für den Prozess inklusive Schadenersatz bei mir wiederzuholen. Vor einer dreiviertel Stunde kam der Bote des Senders und hat den Brief bei mir abgegeben.«
»Die verlieren wirklich keine Zeit. Dann fang schon mal an zu sparen!«, riet ich.
Wurbs leerte die Grappa-Flasche und fiel in einen todesähnlichen Schlaf. Zum Glück saß er bereits auf meinem Sofa, sodass ich nur noch seine langen Beine anheben musste, um ihn in Schlafposition zu bringen.
Meine Katzen protestierten, weil ein fremder Onkel ihnen ihren Platz streitig machte. »Humanitäre Hilfe«, erklärte ich ihnen die Situation.
Im Land der »blauen Vertikalen«
Der große achteckige Raum war fast dunkel. Von der Decke warfen nur ein paar Halogenspots ihr Licht auf Ölbilder, die an den Wänden angebracht waren. Der Maler hieß David Ortman, der Raum befand sich in einer Galerie, in der heute Abend eine Ausstellungseröffnung stattfinden sollte. Noch waren die Hauptpersonen nicht erschienen. Ich schlenderte durch das Halbdunkel, in dem Menschen mit Sektgläsern standen und sich angeregt unterhielten. Man kannte sich, hatte sich auf anderen Vernissagen gesprochen und sich beim Betrachten bildender Kunst erhöht.
Die Frauen waren elegant bis schrill gewandet, die Männer locker bis unpassend. Ich kannte hier niemanden, denn ich verkehrte nicht in Künstlerkreisen. In meinem Beruf gab es schon genug Verrückte.
Da! Ein akustisches Signal, das irgendetwas mit Musik zu tun haben musste. Ein beweglicher Lichtspot richtete sich auf einen langen, dünnen Mann, der ein Saxofon am Mund hatte. Er war völlig schwarz gekleidet und begann, seinem Instrument ziemlich asynchrone Töne zu entlocken, die er ohne Vorwarnung in die Menschengruppen schleuderte. Es klang so melodisch wie ein Dampfhammer. Außer mir schien sich niemand vor den Tönen zu fürchten, denn der Musiker bekam satten Applaus, als er endlich das Saxofon seinen Lippen entriss.
Dann kam sie. Luise Lasotta war dekolletiert bis zum Herzen. Ihre schwarz geschminkten Augen erinnerten mich an zwei Krähen in einer Winterlandschaft, in ihrem blonden Haar schimmerte goldener Glimmer aus der Sprühflasche. Goldene Ketten lagen kiloweise um ihren Hals. Luise Lasotta stand nicht allein mitten im Raum. Neben ihr hatte sich ein kleiner Hund possierlich aufgerichtet. Der Zwergpudel sah aus wie eine riesige Albinoratte mit Dauerwellen. Die Witwe trug ein zu enges rotes Kleid, das der allerletzten Mode entsprach. Doch die kam gegen das Fleisch nicht an, das versuchte, die Nähte zu sprengen.
»Was die Arbeiten von David Ortman so radikal modern macht, ist ihre äußerste Kälte, die uns alle in einen spirituell-poetischen Zustand erhebt«, begann die Witwe. »Mit einfachsten Mitteln stellt der amerikanische Maler ästhetische Fallen. Seine Arbeiten sind in ihrer zufälligen Perfektion wunderbar vollkommen.«
»Du hier?« Ich schreckte hoch. Es war Amadeus Viep, der Mann für die Seite ›Aus aller Welt‹.
»Hallo, Amadeus«, begrüßte ich ihn flüsternd, »ich hätte nie erwartet, dich bei einer Ausstellungseröffnung zu treffen. Aber – ein bisschen Bildung kann nicht schaden. Kennst du Frau Lasotta näher?«
Er kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn neben uns zischte eine Frau: »Ruhe, bitte!«
»David Ortmans Werk 0195 P gehört zu den blauen Vertikalen. Hinter dem Schleier des Nichtobjektiven gehorcht es seinem eigenen Rhythmus. Als sinnliche Augenweide kurvenreicher Ambiguität kann diese Chorus Line aus sechs blauen Vertikalen aus dem Gleichgewicht bringen. Diese Bewegung ist Teil der stillen Musik, die dieses Bild
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