Grappa 08 - Grappa und die fantastischen Fuenf
hatte genau fünf Etagen Zeit, mir die richtigen Worte zu überlegen. Um ein paar Minuten mehr zu haben, verzichtete ich auf den Lift und ging zu Fuß.
Fünf gezeichnete Porträts
»Das ist Pech«, begrüßte mich Leon, »vor ein paar Minuten hat der Mann von neulich wieder angerufen. Der aus Amerika.«
»Verdammt!«, stöhnte ich. »Habe ich Ihnen nicht verboten, ans Telefon zu gehen?«
»Tut mir leid.« Leon war geknickt. »Aber er hat es minutenlang klingeln lassen. Ich dachte, Sie wären es – mit einer Nachricht, oder so.«
»Und – welche Geschichte haben Sie ihm diesmal erzählt?«
»Dass ich noch im Bett liege und dass Sie Brötchen holen und bald wiederkommen.«
»Wenn er sich noch mal meldet, lassen Sie sich eine Telefonnummer geben, unter der ich ihn erreichen kann«, forderte ich. »Das war Nik. Mein Freund. Der denkt Gott weiß was.«
»Okay. Wie geht es Lena?«
»Lassen Sie uns erst mal Frühstück machen«, schlug ich vor.
»Schon passiert«, strahlte er. »Jetzt fehlen nur noch die Brötchen.«
»Ich hab sie vergessen«, gestand ich. »Wir müssen Vollkornbrot essen. Es liegt im Tiefkühlfach. Ich werfe es eben in die Mikrowelle. Geht ganz schnell.«
Als ich mit dem Brot zum Frühstückstisch trat, sah er mich mit unschuldigem Gesicht an. Leon war zwar ein Nichtsnutz und ein kleiner Betrüger, doch er hatte Charme und liebte seine Schwester. Ich bekam Angst vor dem, was gleich passieren würde.
»Lena war nicht da«, wagte ich einen ersten Anlauf. »Das Zimmer war verlassen, das Bett gemacht, und es war aufgeräumt.«
»Dann ist sie bei Freunden in einer anderen Stadt«, mutmaßte Leon. Seine schlanken Geigerfinger deponierten ein Stück Käse auf der Vollkornscheibe.
»Leider gibt es doch Grund zur Sorge«, fuhr ich fort.
»Wieso?« Zwischen den dunklen Augenbrauen erschien eine steile Falte.
»Hauptkommissar Brinkhoff hat die Wohnung durchsucht und unter dem Waschbecken – neben anderer schmutziger Wäsche – ein Kleidungsstück Ihrer Schwester gefunden. Eine weiße Bluse.«
Leon sagte nichts, er starrte mich an, als erwarte er einen furchtbaren Schlag. Seine Lippen zitterten.
»Auf der Bluse war ein großer, eingetrockneter Blutfleck.«
Zuerst sagte er nichts. Ich merkte, wie sich sein Hirn bemühte, die Fakten zu begreifen.
»Sie ist tot. Ich weiß es. Und es ist alles meine Schuld«, flüsterte er tonlos.
»Das dürfen Sie nicht sagen, Leon«, beschwor ich. »Die Kripo wird Lena suchen. Und sie werden sie bestimmt bald finden.«
Leon hatte den Kopf in die Hände vergraben, ein stummes Schluchzen erschütterte seinen Körper. Ich trat zu ihm und streichelte seinen Schopf. Diese Geste war für ihn das Signal, sich in meine Arme zu werfen und laut zu weinen. Ich hatte mich nie als begnadete Trösterin gesehen, doch der arme Kerl hatte ja sonst niemanden. Also fügte ich mich in die Rolle. Sogar ein paar sanfte Worte kamen mir über die Lippen.
»Haben Sie ein Foto von Lena?«
Leon hob den Kopf, die geschwollenen Augen voller Tränen. »Nein«, sagte er mit kraftloser Stimme.
»Wir müssen abwarten und dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Nichtssagende Worte sind das, schalt ich mich, platt und dumm.
»Ich werde sie suchen!« Es klang wie ein heiliger Schwur.
»Nichts werden Sie tun«, griff ich ein, »darauf warten bestimmte Leute ja nur. Wenn jemand Ihre Schwester sucht, dann bin ich es. Und ich werde es mithilfe meiner Zeitung tun.«
Leon schwieg und starrte auf irgendeinen Punkt im Zimmer.
»Ich habe Ihnen Ihre Sachen mitgebracht«, erinnerte ich mich. »Und eine Zeichenmappe, die im Flur an der Wand lehnte. Sie gehört bestimmt Ihrer Schwester.«
Ich erhob mich, um die Mappe zu holen. Als ich am Telefon vorbeiging, klingelte es. Das ist Brinkhoff, schoss es mir durch den Kopf.
»Sag mir endlich, was los ist! Wer ist der Typ in deiner Wohnung?«, brüllte Nik durchs Telefon.
»Hallo, Schatz«, sagte ich. »Schön, dass du mal anrufst, wenn ich zu Hause bin. Ich arbeite gerade an einer mysteriösen Mordgeschichte ...«
»Wer ist der Typ?«
»Er heißt Leon und ist ein wichtiger Augenzeuge.«
»Ein Zeuge?« Nik lachte spöttisch auf. »Er lässt ständig Bäder ein oder liegt im Bett! Und du holst dem Kerl auch noch Brötchen. Grappa, willst du mich verarschen?«
»Reg dich doch nicht so auf. Der arme Junge braucht Hilfe. Seine Schwester ist verschwunden, und Mörder sind auf der Suche nach ihm. Ich beschütze ihn doch nur. Ich versteh überhaupt nicht,
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