Grappa dreht durch
Blumenstickerin verliebt. Eine zarte, tragische Love-Affair, die an allen Bühnen der Welt mit größter Sensibilität inszeniert wird. Nicht jedoch in Bierstadt.
Doch der Reihe nach. Wir trafen uns mit BIG Boss im Foyer. Ich hatte meinen schwarzen Hosenanzug, Modell »Für alle Fälle«, angelegt. Er machte mich zehn Pfund schlanker und 50 Prozent eleganter. Bertha jedoch trug ein lila-schillerndes Ballkleid mit überdimensionalen Puffärmeln. Sie sah aus wie ein Knallbonbon unmittelbar vor der Explosion. Ihr weißes Haar war mit einem Silberhauch übersprüht. Die Arme steckten in schwarzen Netzhandschuhen, die bis zu den Ellenbogen reichten.
BIG Boss führte uns zu den Plätzen, nicht nur erschüttert durch Berthas Outfit, sondern auch durch die Realität ihrer Existenz. Er hatte nicht damit gerechnet, daß ich in Begleitung kam.
Wir ließen uns in die Theatersessel fallen. Wir Mädels nahmen Herrn Boss in die Mitte. Bertha nahm ihm streng und bestimmt das Programm aus der Hand. Bevor er protestieren konnte, erloschen die Lichter. Ich konnte gerade noch ein gequältes Lächeln in seinem Gesicht erkennen.
Die Dunkelheit im Zuschauerraum legte einen gnädigen Schleier über uns. Der Glanz der zweireihigen Perlenketten und der Schimmer von Tausenden von Lurex-Fäden erlosch.
Dann legte das Orchester los. Schicksalsschwangere Melodien kündeten von der Dramatik der folgenden Stunden.
Schnell öffnete sich der Vorhang. Angedeutete Fenster, hinter denen schneebedeckte Dächer zu erkennen waren. Zwei Männer waren zu sehen, ein großer Dünner stand an der Staf-
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felei vor einem gräßlichen Bild und tat so, als würde er pinseln. Sein Kumpel saß an einem Tisch und schrieb.
»Das ist das Tenor-Wunder«, flüsterte mir Herr Boss zu, »sein Name ist Orlando Bellini. Ein Phänomen.«
»Der Dürre oder der kleine Knubbel?« fragte ich.
»Der Mann rechts. Passen Sie auf, gleich singt er.«
Die Prophezeihung erfüllte sich wenige Sekunden später:
Nei cieli bigi
Guardo fumar dai mille
Comignoli Parigi.
E penso a quel poltrone
Di un vecchio caminetti ingannatore
Che vive in ozio come
un gran signore.
Orlando Bellini brüllte, als sei ein Zug entgleist. Ein Wunder, daß Mimi, die zarte Blumenstickerin, die frierend an die Tür klopfte, nicht umgehend die Flucht ergriff. Die beiden philosophierten über verlorene Schlüssel und erloschene Kerzen. Orlando Bellini machte aus der harmlosen Unterhaltung eine Sitzung des jüngsten Gerichts, so laut interpretierte er die zarten Verse der Liebe.
Mimi, nach dem Drehbuch eine magere, kränkelnde Schönheit, war an diesem Abend mit einer leicht überreifen Sopranistin mit dem schönen Namen Tiziana d‘Amico besetzt. Sie verfiel in ein Dauer-Vibrato, dem ganz oben die notwendige Stütze fehlte, um ungeschoren übers Bierstädter Orchester zu kommen, das sich durch ganz eigenwillige Interpretationen von Musikstücken in der Fachwelt einen Namen gemacht hatte. Die Musiker verpaßten der Oper sozusagen eine »zeitgenössische Aufrauhung«.
Der Dirigent gab für alle Fälle nur vage Einsätze, um die Interpretationsfreude der Musiker nicht zu behindern. Dafür freute er sich aber umso mehr, wenn die Sänger ihren In-Point selbst fanden.
»Wunderbar«, schwärmte Herr Boss, »eine gelungene Aufführung.«
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Ich betrachtete ihn heimlich von der Seite. Sein Doppelkinn zitterte im Takt des Elends des Pariser Künstlerlebens im Quartier Latin.
»Wie eiskalt ist dies Händchen«, dröhnte der Tenor auf italienisch, als die Hauptdarsteller im Dunkeln nach einer Kerze suchten.
Herr Boss griff nach meiner Hand. Sie war alles andere als eiskalt.
»Man nennt mich Mimi!« sang die ungestützte Sopranistin. In Wirklichkeit hieße sie aber Lucia, sei Stickerin und führe ein beschauliches, wenn auch entbehrungsreiches Leben. Rodolfo gestand ihr nach dieser Enthüllung spontan und lautstark seine Liebe.
»Wie romantisch«, meinte Herr Boss und drückte meine Hand, »was werden wir nach der Aufführung unternehmen?«
»Ich muß mich um meine alte Tante kümmern«, bedauerte ich im Flüsterton, »sie bekommt manchmal epileptische Anfälle.«
»Also kein netter Ausklang des Abends mehr?« Boss klang enttäuscht. Er ließ meine Hand los. Ich mußte mir eine plausible Ausrede einfallen lassen.
»Tut mir leid, Herr Boss! Aber Tante Bertha liegt mir sehr am Herzen. Ich fühle Verantwortung für sie. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn ihr etwas passieren würde. Ich
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