Grappa dreht durch
die Waffe. »Sie soll von der Tür weggehen! Ich schieße jetzt!«
»Hast du gehört, Carola? Geh so weit von der Tür weg, wie du kannst.«
Kurze Zeit später zertrümmerte ein gezielter Schuß das Schloß. Luigi leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum. Es war eher ein Verschlag. Kein Lichtstrahl fiel herein, es roch nach Schimmel und Urin. In der hinteren linken Ecke saß ein Bündel Mensch auf dem Steinfußboden und hatte die Knie bis zum Kinn hochgezogen.
Ich lief zu Carola und zog sie hoch. Beruhigend sprach ich auf sie ein, sagte, daß nun alles vorbei sei, daß sie sich keine Sorgen mehr machen müsse, daß wir sie alle vermißt hätten. Ich hatte den Arm um sie gelegt und spürte ihren mageren Körper. Dabei liefen mir die Tränen über die Wangen. Ich schämte mich noch nicht einmal.
Der Rest war das, was man einen geordneten Rückzug nennt. Unsere Truppe spazierte, um eine Person erweitert, durchs Gartentor ins Freie. Die Sonne strahlte. Carola legte sich die Hand vor die Augen. »Das Licht!« murmelte sie. Ihre Kleidung war verschmutzt, das T-Shirt zerrissen, ein Schuh fehlte.
»Armes Kind!« sagte Bertha. »Eine Woche in einem dunklen Keller.«
Dann stiegen wir in den Transporter. Ich saß vorne neben Luigi.
»Ich danke dir, Luigi«, sagte ich, »wie kann ich das wieder gut machen?«
»Da ist nichts gut zumachen. Das war eine kleine Übung für
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meine Leute. Immer zuviel Wein trinken und zuviel Pasta essen. Nicht gut für Kondition. Das war heute ein bißchen Training für sie.«
»Was ist mit der Granate in der Hand von Brokkoli?« Luigi zuckte die Schultern. »Che il dievolo se lo porti via!« »Du hast recht, der Teufel kann ihn holen.« »Tipaccio!«
»Du sagst es. Sono contento che tutto sia venuto con noi!«
Nur nicht in den Spiegel gucken!
Anderthalb Tage später landete ich zusammengeschlagen im Krankenhaus. Alfons Brokkoli hatte mich wiedererkannt. Ich sah nicht gut aus, als der lange dünne Junge mit mir fertig war.
Zwei Rippen gebrochen, lockere Zähne, eine gequetschte Niere, von den Beulen und Schrammen ganz zu schweigen. Mein Gesicht hatte keine Konturen mehr, die Lippen waren blutig und aufgesprungen, mehrere Platzwunden mußten genäht werden. Ich sah aus wie eine Halbschwester des Glöckners von Notre Dame.
Der erste, der antrabte, um mich zu besuchen, war BIG Boss. Er faselte etwas von Sorgfaltspflicht und Verantwortung, tätschelte meine Wange, so daß mein Gehirn in seiner Schale vibrierte. Dabei lachte er so laut, daß sich mein Trommelfell wie ein aufgeblasenes Kaugummi ausdehnte.
Bei der Schilderung zahlreicher ähnlicher Schlägereien, die er selbst mit Bravour bestanden hatte, schloß ich matt die Augen. Ich dankte der Pharmaindustrie, die jede Menge müdemachende Schmerzmittel auf den Markt gebracht hatte.
Irgendwann war ich wieder wach und wieder allein. Doch dann nervte mich eine emsige Häubchenträgerin, die unbedingt mein blutbeflecktes Kopfkissen wechseln wollte.
Als Rita, Bertha und Carola gegen Abend eintrudelten, ging es mir schon besser. Carola erzählte, daß sie fast die gesamte
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Zeit ihrer Entführung in dem Keller von Brokkolis Haus gefangen gehalten worden war.
»Haben sie dir Drogen gegeben?« wollte ich wissen.
Das Kind winkte ab. »Nein, ich bin clean. Irgendwann im Dunkeln habe ich gemerkt, daß ich doch noch an diesem Scheißleben hänge. Ich wollte nicht vor die Hunde gehen.«
»War Brokkoli dein Zuhälter?«
»Anfangs schon. Dafür hat er mich mit Stoff versorgt. Doch mit dem Anschaffen ist es endgültig vorbei. Außerdem bin ich zu alt für den Babystrich. Da laufen jetzt die 13jährigen rum.«
Ich sah sie an. Ein nettes Mädchen. Frisch geduscht, ungeschminkt, in einer hellblauen Jeans und einem weißen T-Shirt. Sie hatte die unschuldigsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte.
»Und was willst du jetzt machen?« fragte ich. Meine Wunden pochten wieder. Meine Zunge lag mir schwer im Mund, ich konnte kaum sprechen. Es wurde Zeit für eine weitere Schmerztablette.
»Ich werde bei Bertha wohnen!« verkündete Carola. Ihre Augen wurden sonnig. Die alte Bertha nahm sie in den Arm und sagte: »Wir werden es uns gemütlich machen, mein Kleines!«
Ich blickte zu Rita. Sie hatte die rührende Szene mit verschlossenem Gesicht beobachtet, sagte aber nichts.
»Ist ja eine tolle Idee, Rita, oder?« sprach ich sie an. »So, als würden Oma und Enkelin zusammen wohnen. Familien sind heute nicht mehr wie früher. Also ist
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