Grappas Gespuer Fuer Schnee
ich, dass ich mehr als nur nett zu ihr sein würde.
»Mein herzliches Beileid«, murmelte ich.
»Danke. Kommen Sie doch ins Wohnzimmer.« Sie hatte Kaffee gekocht. Auf dem Couchtisch stand eine silberne Schale mit Keksen, daneben türmten sich Fotoalben.
»Leben Sie allein?«, fragte ich.
»Ja. Mein Mann hat uns schon lange verlassen.«
»War Sandra Ihr einziges Kind?«
Frau Becker nickte. Ich schätzte sie auf Mitte sechzig, aber vielleicht war sie auch jünger.
»Erzählen Sie mir etwas über Sandra«, bat ich. »Wie war sie?«
Frau Becker griff nach einem der Alben. Dann erzählte sie – Geburt, Kindheit, Jugendjahre. Ich ließ die Worte an mir vorbeirauschen, nickte freundlich und sah mir die Fotos an. Erstes Fahrrad, Schultüte, Urlaub in Bayern. Da war die Familie noch komplett.
Waltraud Becker strahlte Kraft und Stolz aus. Heute hatte sie kaum noch Ähnlichkeit mit der Frau von früher. Sandras Vater schaute seine kleine Tochter verliebt an. Ein halbes Jahr nach der Aufnahme hatte er sich »aus dem Staub gemacht«. Weitere Fotos von ihm gab es im Album nicht.
Der erste Job als Azubi bei der Bierstädter Stadtverwaltung. »Sie hat die Prüfung mit sehr guten Noten abgeschlossen«, erzählte die Mutter.
»Und später hat sie in der Parteizentrale gearbeitet – so hörte ich«, kam ich zur Sache.
»Bei der SPD. Sie war die persönliche Referentin von Mobby Madig. Quasi seine rechte Hand.«
»Sind die beiden gut miteinander ausgekommen?«, fragte ich.
»Ja. Sandra war sogar ein bisschen mit ihm und seiner Frau befreundet. Hier – ich zeige es Ihnen.«
Waltraud Becker zog das nächste Album hervor und klappte es auf. »Da ist es. Sandra und Madig und ein paar andere während des letzten Bundestagswahlkampfs.«
Sandra Becker stand mit einem Stapel Flugblätter mit SPD-Logo hinter einem niedrigen langen Tisch. Rechts und links Plakatständer der örtlichen SPD-Kandidaten. Die waren schon alle so viele Jahre im Bundestag, dass sie fürs Leben ausgesorgt hatten. Mobby Madig befand sich vor dem Tisch. Er trug eine rote Schirmmütze mit den weißen Parteibuchstaben und war in ein Gespräch mit einem mündigen Bürger vertieft. Letzterer hielt ein SPD-Fähnchen in der einen und eine SPD-Tasse in der anderen Hand.
»Ein sehr hübsches Mädchen, Ihre Sandra. Und Ihr Schwiegersohn? War er auch in der Partei aktiv?«
»Er war – glaub ich – zwar drin, aber ohne Amt. Wohl aus beruflichen Gründen. Tommi war Sachbearbeiter bei der Stadtverwaltung. Bei der Rechnungsprüfung.«
»Ja, da kann das SPD-Parteibuch nicht schaden«, stimmte ich zu. »War Mobby Madig bei der Heiratszeremonie dabei?«
»Nein. Er hatte Termine. Aber er hat bestimmt eine Glückwunschkarte geschickt. Moment, ich habe sie ja alle gesammelt.«
Frau Becker öffnete die Glastür einer Schrankwand und holte einen Karton heraus. Sie wühlte darin, klappte Karten auf und zu. Doch das, was sie suchte, fand sie nicht.
»Also doch kein Glückwunsch vom Parteichef?«, fragte ich.
»Die muss ich dann verlegt haben«, entschuldigte sie sich. »Geschrieben hat er bestimmt, der Madig. Er war ja jahrelang ihr Chef und sie seine rechte …«
»… Hand, ja«, meinte ich. »Warum hat Sandra denn gekündigt?«
»Sie hat nichts erzählt.«
»Hatte es Streit gegeben?«
Frau Becker blieb dabei: Sie wusste von nichts. Ich blätterte weiter in dem Album. Sandra Becker war eine emsige sozialdemokratische Wahlkämpferin gewesen. Wenn Madig das Bad in der Menge suchte, trug sie seine Tasche. Wenn er in Kleingärten Würstchen briet, reichte sie ihm das Grillgut. Was hat sie wohl noch für ihn tun müssen?, fragte ich mich.
An einem Foto blieben meine Augen hängen. Die üblichen Personen: Madig, Becker, ein paar mündige Bürger. Und noch einer, den ich nur allzu gut kannte: Rudi Gies. Er klebte im Hintergrund an einem Bierstand und schaute den Wahlkampfbemühungen grinsend zu. Ich schaute die nächsten Fotos an – Rudi Gies war erneut dabei.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte ich Frau Becker.
»Ein Kollege von Sandra, glaube ich. Den Namen kenne ich nicht.«
»Er arbeitet auch bei der Partei?«, fragte ich.
»Ich glaube, er schreibt Reden.«
»Gab es an dem bewussten Morgen irgendetwas Ungewöhnliches?«, änderte ich das Thema. »Außer, dass es der Hochzeitstag war?«
»Nein«, schluchzte Waltraud Becker – von der Erinnerung übermannt. »Auf dem Standesamt war noch alles so wunderschön. Und dann bringt jemand die Sandra und den Tommi
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