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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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teilten sich die Göttinger und die Berliner Arbeitsstelle in die
wiederaufgenommene Arbeit.« Zurückhaltung war geboten. Ergänzend dazu nur
wenige Worte darüber, wie ein halbes Jahr vor Kriegsende die östliche
Arbeitsstelle wegen zunehmender Bombenangriffe aus der Reichshauptstadt in das
Schloß Fredersdorf nahe Beizig verlegt werden mußte.
     
    Ich
trage nach: alles Zettelmaterial und die Bibliothek waren schon zuvor untertage
in einem Kalibergwerk bei Bernburg an der Saale in Sicherheit gebracht worden.
Auf tiefster Sohle, verborgen in einem der leergeschrappten Firste, hätte man
notfalls den Dienst zugunsten der Buchstaben W und Z fortsetzen können, und sei
es beim Funzellicht von Karbidlampen.
    Weil
aber die Front und mit ihr die Rote Armee näher und näher rückte, wurden im
April fünfundvierzig, als sich der Führer des Großdeutschen Reiches bereits
eingebunkert hatte, von Fredersdorf aus vier Kisten voller noch nicht
abgeschlossener Stichwortartikel auf ein Gut in Blumental nahe Magdeburg
gebracht. Weit verstreut sollten die verkürzten Zeugnisse der Literatur vor zu
befürchtender Zerstörung geschützt werden: ein Schatz, aus dessen Fülle eine
Million und mehr Zitate beredt werden wollten.
    Schon
bald nach Kriegsende förderte dann die sowjetische Militärverwaltung die
Rückgabe des Zettelmaterials. Zwar war es im Schloß Fredersdorf zu Plünderungen
gekommen, unter denen besonders die Bibliothek der östlichen Arbeitsstelle
hatte leiden müssen, auch blieben die vier nach Blumental transportierten
Kisten verschollen. Zudem hatte ein örtlich zuständiger Kommandant der Roten
Armee den Schacht des Kalibergwerks zumauern lassen. Dennoch konnten bald zwei
Räume in der Berliner Universitätsstraße für zukünftige Arbeit vorsorglich
gesichert und mit Papieren geschützt werden, die die Besatzungsbehörde
gestempelt hatte; offenbar gab es innerhalb des nun alles beherrschenden
Machtapparates einige Liebhaber der deutschen Sprache.
    Gleich
zu Beginn des folgenden Jahres gelang es durch Vermittlung der sowjetrussischen
Akademie der Wissenschaften, den Rücktransport aus Fredersdorf und aus dem
Kalischacht bei Bernburg einzuleiten. Mit Lastwagen der Roten Armee, die streng
bewacht in Kolonne fuhren, wurde die Masse der Belegzettel, deren
Vielstimmigkeit seit Jacob und Wilhelm Grimms Zeiten angereichert worden war
und die nun, erregt durch plötzlichen Transport, wirr vor sich hinflüsterte,
zurück nach Berlin befördert. So geriet, was man kriegsbedingt gelagert hatte,
allmählich wieder in Fluß. Göttingen gehörte zwar zur britischen
Besatzungszone, nahm aber dennoch mit Ostberlin Kontakt auf; Ostberlin wußte in
Göttingen einen zuverlässigen Mitarbeiter, den überlebenden Hans Neumann.
     
    Mir
aber liegt im Rückblick auf das Jahr des Untergangs und der Befreiung, in dem
weltweit Frieden erhofft wurde, noch immer der Tiergarten wüst. Zwischen
verkohlten Baumstümpfen, militärischem Schrott und verschilften Wasserlöchern
habe ich Mühe, die Grimmbrüder aus den biedermeierlich möblierten Nischen ihres
Jahrhunderts hervorzulocken.
    Ich
versuche es mit zukunftsverheißenden Versprechungen: »Bald geht es weiter! Dem
Wörterbuch ist Zuwachs gewiß! Zielstrebig haben Frings und Neumann Kontakt aufgenommen!«
    Ich
rufe: »Das Z soll noch vor dem W zum Abschluß gebracht werden.«
    Ich
bestätige Tatsachen: »Jadoch! Alle Belegzettel wurden untertage in einem
Kalibergwerk geborgen. Kein Wasserschaden!«
    Ich
sage auf, was mir erst später bekannt werden wird: »Eine Kolonne Lkw, lauter
Fünftonner, lieferte kürzlich alles in die UniversitätsStraße 3b, wo inzwischen
Professor Frings und seine Mitarbeiter...«
    Ohne
Echo bleibt, was mir als Lockruf einfällt. Jetzt stelle ich mich unter eine
kaum geschädigte Buche, suche ringsum die weitgebreitete Wüstenei nach
zerstreut liegenden Stichwörtern ab, stolpere über Gasmaskenbüchsen und
durchlöcherte Stahlhelme unterschiedlicher Prägung, bin versucht,
Patronenhülsen, Granatsplitter und Uniformknöpfe zu sammeln, stoße mein Knie an
einer Geschützlafette wund, habe Ziegelsplitt, den der Wind mit sich trägt, zwischen
den Zähnen und befrage fromme Kirchenlieder nach einem Zitat, das den Zorn
Gottes belegt. Ich erinnere mich an von mir beschriebenen Zerfall, der aus
anderem Anlaß von Krieg und zerstörender Gewalt zeugte, brülle mich heiser -
»Es geht zügig weiter, vorwärts, voran!« -, will, weil mittlerweile verzagt und
zermürbt vom

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