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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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bocksbeinig, verzwergt
und aufgepumpt zum Coloß. Doch chocieren sie nicht, weil sie fernsehtauglichen
Monstern, den Nachfolgern aus Doktor Frankensteins Baukasten gleichen oder in
Gruselfilmen als späte Abkömmlinge der Wasserspeier an Frankreichs gotischen
Cathedralen Gestalt gewonnen haben, sondern weil sie uns als Copien unserer
selbst demnächst begegnen werden, so daß sich die menschliche Creatur - und sei
es vorerst im Traum nur - als Chimäre gespiegelt sehen wird; denn das werden
wir sein, sobald eine Horde Genetiker uns als Neugeborene erdacht hat:
Chimären.
     
    Weil
aber das besagte Ungeheuer weder im Singular noch im Plural bei den Brüdern
Grimm zu finden ist - wohl aber der Cyclop -, suche ich nach Gründen für diese
auffallende Blindstelle. Zählen doch Chimären in verwunschener, verhexter,
vertauschter Gestalt zum Personal der von ihnen gesammelten Kinder- und
Hausmärchen. Als Froschkönig, als Rumpelstilzchen treten sie auf. Verhext sind
sie dies und das. Das tapfere Schneiderlein kämpft mit einem Riesen, der Wasser
aus Steinen drücken kann. Erdmänneken und Einhörner, vielfingrige Wurzelwesen,
den fast alle Wünsche erfüllenden Plattfisch gibt es. Man muß nur
»Bricklebrit!« rufen, und schon scheißt der Esel güldene Dukaten. Aus des
erschlagenen Mädchens Knochen wird eine Flöte, deren Gesang von der Mordtat
berichtet. Was vor sich hinfabelt, seine Mär aufsagt, ist von chimärenhafter
Natur. Und unser Aschenputtel, das nach norddeutscher Mundart Aschenbrödel, in
Schwaben Aschengrittel heißt und anderswo Cinderella genannt wird, erbittet sich
von den Türteltauben Hilfe, worauf diese in Windeseile Linsen aus der Asche - lateinisch
cinis - lesen und gegen Schluß des Märchens den bösen Stiefschwestern links
rechts, rechts links die Augen aushacken. So hübsch und artig einerseits, so
monströs andererseits ist Aschenputtel geraten. Aber Chimären haben ja, wie
wiederholt bedauert, im Grimmschen Wörterbuch Platzverbot. Warum nur, warum?
    Vielleicht
weil die Brüder vom A und B vorerst erschöpft waren. Oder weil sich Wilhelm
eigensinnig bereits aufs D caprizierte oder sein Sammlerfleiß anderswo fremd
ging. Vielleicht aber auch, weil übers ABC hinaus alle Buchstaben zugleich ihr
Angebot machten, citatselig durcheinanderquatschten, dabei wichtig taten und
beide weiterhin eingeschneit unter Zetteln saßen, die ihnen die Post aus
jeglicher Richtung zutrug.
    Gleichwohl
kann es sein, daß politische Veränderungen den Eifer der Grimms hemmten. Das
Ende ihres Aufenthaltes im churhessischen Kassel - oft noch, ins C verliebt,
Cassel geschrieben - wie Cöln lange für Köln stand - war abzusehen und brachte
Unruhe in den engen Familienbetrieb.
    Sobald
sie das eine oder andere Briefcouvert ihrer Leipziger Verleger Reimer und
Hirzel öffneten, sahen sie sich einem Ortswechsel näher, der erwünscht und
zugleich befürchtet wurde; so sehr waren sie, trotz aller erlittenen
Mißachtung, im hessischen Umfeld verwurzelt.
    In
den Briefen der Verleger ging es um den preußischen König Friedrich Wilhelm den
Dritten, der, vorerst noch putzmunter und geübt im Ausüben der Censur, das Fest
zur vierhundertjährigen Feier der Erfindung des Buchdrucks verhindern wollte.
    Am
17. Februar 1840 hatte Reimer in einem Brief an Wilhelm das grundsätzliche
Mißtrauen des Königs allem Gedruckten, mithin jedem Buchdrucker gegenüber
herausgestrichen. Was ihm einst der Buchhändler und Vater seines Compagnons
Salomon, der alte Isaak Elias Hirzel erzählt hatte, hörte sich wie ein
Commentar zu diesem Geschehen an. Danach sollte eine für den Abdruck in der
Staatszeitung vorliegende Rede, die am Grabe des verdienten Verlegers Cotta
gehalten werden sollte, censuriert werden, und zwar in Rücksicht auf den
dritten Friedrich Wilhelm, von dem es in Reimers Brief hieß: »Auf Befragen
erwiederte der Redacteur, der König pflege die Staatszeitung zu lesen, und der
würde die gestrichene Stelle mit Unwillen gesehn haben, da er es nicht liebte,
wenn Dichter, und namentlich Goethe und Schiller, so gewaltig erhoben
würden...«
    Von
diesem König, der mit dem von Hannover verwandt und ihm, was anmaßende Härte
und dumpfe Selbstherrlichkeit betraf, ebenbürtig war, konnte gewiß nichts
Gutes, gar eine Berufung der Grimms erwartet werden, weshalb die Brüder, fern
aller Hoffnung und klamm an Mitteln, die Wörtersuche nur noch zögerlich
betrieben. Es war, als fehlte ihnen ein Anstoß, Herr ihrer begonnenen
Zettelwirtschaft

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