Grass, Guenter
Tiergarten zu sehen. Das kann
ich: wünschen, wie im Märchen herbeigewünscht wird.
Schon
bald nach dem Umzug sind sie unterwegs. Nach wechselhaftem Aprilwetter ist der
Mai da. Jeder geht für sich. Jacob schnelleren Schrittes, weil immer auf ein
Ziel aus, Wilhelm hier und dort verweilend, lädt die Natur doch dazu ein.
Vielerlei Grün. Fliederduft. Düfte, die gereiht einen Catalog füllen könnten.
Dazu Vogelstimmen. Überall öffnen sich Knospen. Und in so viel Natur gestellt:
zwei Mittfünfziger in altdeutscher Kleidung, die anderen Spaziergängern
sonderlich vorkommen mögen. Jacob barhäuptig. Wilhelm trägt seine Kappe aus
Filz oder Samt.
Weil
von ihren Verlegern in immer dringlicher mahnenden Briefen bedrängt, höre ich,
wie sie halblaut, doch meinem Ohr eingängig, Einsilber reihen. Jacob fallen
Stichwörter für die sehnlich erwartete erste Lieferung zum Buchstaben A ein:
Aas, Abt, Amt... Oder sucht er nach einem Wort, das die Lücke zwischen Bitte
und bitter schließt? Wilhelm ist dem Buchstaben D hinterdrein: Dasein, Demut,
Dunkel... Ganze Wortfelder, in denen die Wörtchen aber und als blühen und die
Artikel der die das gleich Unkraut wuchern, sehen sie reifen, ernten sie ab,
pflügen sie um.
Doch
zwischendurch fliegen dem einen, dem anderen Wörter zu, die den bislang arm
bestückten Buchstaben C bereichern sollen, macht doch seitab, das gleich
hinterm Brandenburger Tor liegende Berlin sein Angebot mit rollenden Calessen
oder Caleschen:
In
städtischen Circeln werden Cabinetsumbildungen commentiert; auch wird flüsternd
ein Complot vermutet.
Am
Rande des großen Exercierplatzes sehen Corporale, aus deren Pfeifen Canaster
wölkt, Recruten zu, die im Schatten der Caserne ums Commißbrot würfeln.
In
der Vossischen Zeitung steht von Capitalverbrechen zu lesen. Und der Critiker
einer Comödie berichtet von den Capriolen einer Schauspielerin.
Im
Haus Savigny, in dessen Salon es nach höfischer Sitte conventionel zugeht,
gehören Complimente wie übersüßes Confect zum Angebot.
Saufcumpane
trifft man im »Fetten Capaun«, wo polternde Choleriker schnaufen.
Etwas
ist curios, kommt jemandem curios vor, nimmt einen curiosen Verlauf.
Anderes
will im Cafe »Stehely«, dem Treffpunkt inmitten der City, nicht convenieren,
weil allzu scandalös.
Aber
draußen, vorm Hamburger Tor, haust, wie bald in Bettines Socialchronik gedruckt
stehen wird, das Elend christjämmerlich.
An jeder Ecke wachen Constabler.
Im Theater lärmen Claqueure.
Und
in der Charite, wo Clistiere Wunder versprechen, riecht es nach Chlor.
Per
Discretion geht es politisch controvers zu; contra und radical zu sein, gehört
zum guten Ton; man gibt sich civilisiert.
Gerüchte
circulieren: Wilhelm von Humboldt sei einst einer Curtisane gefällig gewesen,
und über Alexanders Contacte wird colportiert...
Die
Töchter aus gutem Hause jedoch sitzen sittsam klimpernd am Ciavier, geben sich
nur vorm Spiegel coquet.
Hingegen
wollen die Calvinisten keine Choräle singen, wie es die Lutheraner tun, sobald
ihr Cantor...
Doch
im Tiergarten grüßt an der Schmalseite des Goldfischbassins eine steinerne
Halbnackte: die Copie der Venus von Capua.
Und
was sonst noch am C klebt. Aber Jacob Grimm weigert sich, das Chamäleon ins
Wörterbuch aufzunehmen, wenngleich dieses Tier genau so lustvoll wie der
dritte Buchstabe zum Farbwechsel und Convertieren neigt. Anders das Wort Creatur,
an dem er sich erfreut und das er später, wie im zweiten Band zu lesen steht,
als »tönender und mächtiger als das deutsche wort geschöpf« werten wird. Mit
Grimmelshausen lobt er die Tiere: »so viel unvernünftige creaturen, welche oft
klüger als wir menschen handeln.« Und mit Bürger ruft er unter einer blühenden
Linde: »zum himmel ächzt die creatur«! Bald danach sind es frischgrünende Birken,
zwischen denen er von falschen, armen und mit Lessing von »nichtswürdigsten
creaturen« spricht.
Sobald
ihm Wilhelm entgegenkommt, leitet dieser, weil er den Bruder so inbrünstig die
Eigenschaften menschlicher Creaturen feiern und verdammen hört, auf
»creatürliches Verlangen« über, was heißen soll, man möge auf dem Rückweg zur
Lennestraße am Platz an den Zelten einkehren, wo Tische und Stühle auf ermüdete
Spaziergänger warten und eine Conditorei den beiden Wörtersammlern
Citronentörtchen, cremegefüllte Täschchen und heiße Chocolade verspricht.
Übrigens
geht Wilhelm jetzt ohne Kappe. Schon graudurchwirkt fällt sein Haar leicht
gewellt
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