Grass, Guenter
gehört werden und
Tatsachen schaffen. Sehe ich doch weiterhin, wie das gewünschte Museum, reich
an freigegebener Kunst, als Brücke den Grenzfluß überwölbt. Schön anzusehen.
Ein Bauwerk, das für sich spricht, zugänglich von beiden Seiten. Doch scheint
es, wie andere Brückenschläge auch, fixe Idee bleiben zu wollen; ein
Luftschloß, verflüchtigt, sobald ihm Besucher nahen.
Ähnlich
schien es um die Idee vom deutschen Wörterbuch bestellt zu sein. Es wollte und
wollte nicht werden, auch wenn die Grimmbrüder nun endlich in ehrenvoll fester
Stellung mit ausreichend vielen Reichstalern und Nebeneinkünften gesichert
waren und mit Blick auf den Tiergarten eine geräumige Wohnung genossen, in der
sie allerdings von seßhaften Krankheiten heimgesucht wurden.
Bei
Wilhelm soll es das Herz gewesen sein, dessen Schlag von Jugend an chronisch
stolperte. Überdies holte ihn immer wieder die Schwermut ein. Jacobs Leiden
kam, je nach Meinung der Arzte, von der Lunge oder aus dem Unterleib. Mit den
Ärzten wechselten die Medikamente. In klagenden Briefen an die Leipziger
Verleger ist nichts zu finden, das von erkrankten Kindern Bericht gibt, doch
deren Mutter war von eher labiler Gesundheit, sie kränkelte mehr, als daß sie
ernsthaft krank war.
So
stelle ich mir den Haushalt in der Lennestraße vor: leise gestimmt. Der Übermut
der zwölf- und zehnjährigen Söhne gebremst. Sie huschen wie auf Strümpfen. Die
kleine Auguste hilft der Zugehfrau in der Küche. Haferschleim gibt es. Die
Brüder trinken mineralisches Wasser. Sie dämmern vor sich hin. Nichts, kein
Stichwort will ihnen, von Citaten bestätigt, zum Artikel reifen. Was in der
Stadt geschieht und lärmt, bleibt fern. Vorlesungen an der Universität, die Wilhelm
sonst gerne, Jacob nur pflichtschuldig hält, müssen abgesagt werden. Keine
Spaziergänge mehr durch den Tiergarten, so sommerlich schattig er einlädt.
Selbst Bettine, die sich durch Krankheit noch nie abschrecken ließ, vermag die
Brüder nicht aufzumuntern.
Das
alles soll erklären, weshalb den mühsam geordneten Zettelkästen nur spärlich
etwas zuwächst, das bis zum Wortartikel reift. Alle Buchstaben darben,
besonders der dritte, dem Jacob, der vielen Fremdwörter aus französischer
Erblast wegen, nur widerstrebend Zuneigung zeigt. Aber Verdeutschungen, etwa
Bande für Clique, nennt er »unzulänglich«. Deshalb bleibt seine Auswahl
lückenhaft, wirkt zufällig, schlampig, wie mit Mißmut gestückelt. Später wird
er zur Charakteristik des wankelmütigen Buchstabens unter Punkt drei einleitend
schreiben: »das Wörterbuch kann nicht die unzahl aller mit C anlautenden
ausländischen wörter sammeln wollen, woran auch gar nichts läge...«
Ein
auf Sparsamkeit setzendes Concept. Immerhin werden die »cartaunenmächtigen
worte« der Barockdichter und Schillers »cabale und liebe« citiert, doch bleibt
der Buchstabe C auf Magerkost gesetzt, weil allzu überfremdet oder, wie man
sagte, verwelscht.
Da man sich civilisiert gab, gehörten Centauren der
Fabel weit an.
Noch war kein Chinin, gewonnen aus Chinarinde, der
Malaria gewachsen.
Ganz
zu schweigen von Contergan
und
dessen Nebenwirkung auf Embryonen.
Doch
ließ das Metternichsche Censur- und Spitzelwesen
bereits
zukünftige Sicherheitssysteme,
so
die Central Intelligence Agency,
kurz
CIA genannt, vorahnen.
Und
noch immer schützte kein Copyright
die
Kinder- und Hausmärchen.
Beim
Wörtersuchen halfen weder Chips,
noch
konnten die Brüder durch Raum und Zeit chatten.
Kein
Computer öffnete ihnen den Corridor ins Cyberspace.
Wenn
sonst dem Berliner Witz
jeder
Calauer billig war,
fehlte
dennoch beim Spiel zwischen Scham und Zunge
der
Begriff Cunnilingus; aber Jacob war ohnehin
dem
weiblichen Fleisch entwöhnt
und
verkehrte oral nur mit Vokalen.
Kein
Callgirl wurde ihm behilflich,
nirgendwo
kam es nachweislich zum Coitus.
Und
weil es kein Cinema gab, schnitt auch kein Cutter
obszöne
Szenen aus Wilhelms Märchen,
in
denen Rumpelstilzchen zum Clown mutierte,
Rapunzel
keinen Coiffeur benötigte,
aber
der Froschkönig naßkalt sein Comeback feierte.
Damals,
als der Welt noch kein Countdown gezählt wurde,
nirgendwo
Containerschiffe Olspuren hinterließen,
und
in Hannover keine Cebit-Messe den Consumenten
das
absolute Communizieren verhieß,
damals,
als sich die Brüder Grimm nimmersatt,
weil
stets nach Wörtern gierig,
im
Tiergarten ergingen,
der
damals noch nicht nach Currywurst roch...
Wie
ich gut
Weitere Kostenlose Bücher