Grass, Guenter
diktierte und starre Ordnung in Tanz
auflöste,
er, der den Schreck überdauernd
im Kleiderschrank hockte,
er, dem kein Keller zu duster,
kein Turmdach hoch genug,
ihm, der dem Bösen zu Diensten war,
ihm, dessen Stimme jegliches Glas durchdrang,
ihm, dem kein Dieb die Trommel betasten,
der aber einer Dame vom Zirkus nah,
ganz nah kommen durfte,
er, oberschlau, wollte nicht wachsen;
ich aber wuchs, dachte mich größer und größer,
wies jedem Ball die Delle
und allen Dingen den Schatten nach,
war Dorn im Fuß, Dolch in des Vaters Rücken
und schaute auf Fotos erwachsen drein.
Ach, Oskar, wäre ich doch wie du ein Däumling
geblieben.
Da
ist er, der Außenseiter im Volk der Finger, mit dem, nach Wilhelm Grimms
sprachkundlichen Quellen, auch Riesen Erstaunliches vermochten, sagt doch
Fischart seinem Gargantua nach: »er trug den schwersten balken auf eim daumen.«
Auch
sonst und im täglichen Leben, indem er straft, unterdrückt, herrscht er vor:
dominant. Wohl deshalb legt man ihm Daumenschrauben als Folter an. Und im Buch
der Richter werden siebenzig Königen die Daumen abgehackt; eine Methode, die
von der Mafia, wo immer sie Regeln diktiert, in vorwarnender Praxis auf die
restlichen Finger erweitert wird.
Ohne
Daumen will uns nichts recht in den Griff kommen. Beim Geldzählen, Austeilen
der Spielkarten ist er tätig. Ohne Daumendruck haftet die Briefmarke nicht. Er
juckt bei günstiger Gelegenheit, ist taub, sobald ihn der Hammer trifft. Wir
bemessen Abstände nach Daumensprüngen, peilen über den Daumen. Neros Nachfolger
senken ihn immer noch. Das Sprichwort behauptet: wer die Gicht im Daumen hat,
ist geizig. Jemandem wird nachgesagt, er habe einen goldenen Daumen. Wer gut
gärtnert, dem wird ein grüner zugesprochen. Manch Greis bleibt Daumenlutscher
lebenslang. Wir drehen Däumchen, wollen alles und jeden unter dem Daumen
haben. Dem Feind wird er aufs Auge gedrückt. Andersen hat ihm ein
Schwesterchen, Däumelinchen, erfunden. Das und noch mehr hat mir mein Daumen
erzählt.
Als
aber Wilhelm Grimm bei seinem täglichen Gang durch den Berliner Tiergarten an
einer Wegkreuzung seinem Bruder abermals begegnet, hat er, als Gegenbild zum
gewalttätigen Daumen, einen wohltuend freundlichen parat. Er wird gehalten,
wenn jemandem, der uns lieb ist, Glück, oder was immer er für Glück hält,
gewünscht wird: ich halt dir den Daumen!
Und
als sich die Brüder an einer Weggabelung wieder trennen, stoßen sie nach alter
Sitte, von der Wilhelm behauptet, sie sei in Pommern noch üblich, die
Daumenkuppen gegeneinander, worauf Jacob ruft: »Nun, Bruderherz, hast du drei
Wünsche frei!«
Und
mit dieser, in vielen der von ihnen gesammelten Märchen bedeutsamen Zahl auf
den Lippen gehen sie wiederum getrennt ihrer Wege, auf die herbstlich bunte
Blätter fallen. Dabei kommen Wilhelm sogleich des Teufels drei goldene Haare,
drei Federn, Glückskinder, Spinnerinnen, Männlein im Walde in den Sinn.
Schließlich zählt er noch die drei Brüder und das Märchen von den drei Töchtern
dazu, die Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein heißen, und von dem er weiß, daß
es in der Oberlausitz erzählt wurde. Zwar ist anfangs Jacob die treibende Kraft
gewesen, die beide bewog, diese und andere Märchen aufzuschreiben und nach
ihrer Herkunft zu befragen, dann aber war es Wilhelm, der sie von Grobheiten
und allzu deutlicher Fleischeslust befreite, man kann auch sagen, säuberte und
zugleich poetisch vieldeutig machte. So wurden sie in eine für Kinderohren
erlaubte und selbst dem erwachsenen Ohr dauerhaft nachhallende Sprache
gebracht.
Das
mißfiel seinem Bruder, der sich in allem, was er tat, den Urtexten verpflichtet
sah und deshalb angebliches Verbessern als Verfälschung wertete. Er
mißbilligte die Eingriffe, mehr noch: als die von Wilhelm besorgte Ausgabe der
Märchen in kindgerechter Lesart auf den Buchmarkt kam, erfreute ihn zwar der
allgemeine Zuspruch, dann aber tadelte er doch - und sei es aus Prinzip - den
unwissenschaftlichen Umgang mit der Urform der Texte: »Wilhelm war bei der
ausarbeitung dieser neuen ausgäbe des materials nicht mächtig.«
Erst
nach Jahren und nachdem sich die Märchensammlung als die »Grimmsche« wie
selbsttätig verbreitet hatte, ließ er von seiner harschen Kritik ab, sonst
hätte er wohl kaum dem Bruder bei der anhaltenden und, wie sich zeigen sollte,
eher zähflüssigen Vorbereitung des Wörterbuchs den Buchstaben D anvertraut;
mehr war ihm ohnehin nicht
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