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Grass, Guenter

Grass, Guenter

Titel: Grass, Guenter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grimms Woerter
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Lieferungen
fortzusetzen. Nachdem die beiden jungen Leute als fleißige Zuarbeiter auf
Verlagskosten in eigens getischlerten Kästen die ständig anfallenden
Zitatzettel in alphabetischer Ordnung sortiert hatten, teilten die Brüder die
Buchstaben auf. Jacob hatte sich zuvor schon für A, B und C entschieden. Er war
bereit, nach dem E das F zu beackern, Wilhelm war mit dem D zufrieden und
hätte sich wohl gerne vorauseilend auf das M eingelassen, allein schon wegen
des Artikels zum »Märchen«.
    Ich
aber bin sicher, daß der ältere Grimm, während er gebeugt über Korrekturbögen
sitzt, die von A über aasig bis Affenschanz und weiter reichen, bereits vom
Buchstaben E mißmutig gestimmt wird, denn mit der eins und dem folgenden
einerlei, einerseits, einzig holt ihn das Stichwort Einheit ein und mit ihm
abermals die Frankfurter Paulskirchenversammlung als Echo jener elend langen,
die deutsche Einheit vergebens beschwörenden Reden und ermüdenden Debatten; wie
ja auch ich mich an diesem Erbgut zu reiben begann, als im Jahr neunzig das
zweigeteilte Deutschland eilfertig, was hieß, durch bloßen Anschluß auf eine
Einheit eingeschworen wurde, die seitdem nur auf dem Papier steht. Denn kaum
hatte sich jener zuerst in Leipzig lautgewordene Ruf »Wir sind das Volk!« zu
der wenig sagenden Behauptung »Wir sind ein Volk« verengt und die sogenannte
Wende herbeigeschrien, kam es, geködert mit dem Versprechen, es werde das Geld
eins zu eins gewechselt, weshalb aus Einöden blühende Landschaften werden
würden, zu einer Einheit ohne Einigung. Einverleibt gegen geliehenes Geld. Nur
der Schuldenberg wuchs. Zugleich wurde durch Markterweiterung westlicher
Erwerbssinn ermuntert.
     
    Weshalb
ich auf Reise ging: unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Ich wollte
sehen, was sich änderte, und sah, mit welcher Eile der Westen den Osten
enteignete. In Reden, die wenig Gehör fanden, empörte ich mich. Zum Beispiel im
bayerischen Tutzing, wo auf einer Tagung der Evangelischen Akademie, zu der die
grüne Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer und ich eingeladen hatten, meine
»Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen« vergeblich für eine Konföderation
warb: »Alptraum steht gegen Traum. Was hindert uns, der Deutschen
Demokratischen Republik und ihren Bürgern durch einen gerechten, längst
fälligen Lastenausgleich dergestalt zu helfen, daß der Staat sich
wirtschaftlich und demokratisch festigen kann und seine Bürger weniger Mühe
haben, daheim zu bleiben? Warum muß der deutschen Konföderation, die unseren
Nachbarn erträglich sein könnte, immer wieder eins draufgesattelt werden, mal
nach vagem Paulskirchenkonzept als Bundesstaat, dann wieder, als müßte das so
sein, in Gestalt einer Groß-Bundesrepublik? Ist denn eine deutsche Konföderation
nicht mehr, als wir jemals erhoffen konnten? Sind denn umfassende Einheit,
größere Staatsfläche, geballte Wirtschaftskraft ein erstrebenswerter Zuwachs?«
    Lauter
Fragesätze. Gegen Schluß der Rede steigerte sich meine trübe Voraussicht:
»Hilfe, wirkliche Hilfe wird nur nach westdeutschen Konditionen gegeben.
Eigentum ja, heißt es, aber kein Volkseigentum bitte. Die westliche Ideologie
des Kapitalismus, die jeden anderen Ismus ersatzlos gestrichen sehen will,
spricht sich wie hinter vorgehaltener Pistole aus: entweder Marktwirtschaft
oder... Wer hebt da nicht die Hände und ergibt sich den Segnungen des Stärkeren,
dessen Unanständigkeit so sichtbar durch Erfolg relativiert wird. Doch auf Mark
und Pfennig berechnet, wird die deutsche Frage nicht zu beantworten sein.«
    In
meinem Reisetagebuch, das mich nach Schwerin, Stralsund, Neubrandenburg, nach
Cottbus, Bautzen und Leipzig, in die Lausitz zwischen Senftenberg und Spremberg
begleitete, eine vom Braunkohleabbau gezeichnete Gegend, in der ich einst mit
Hilfe zweier Granatsplitter so leicht verwundet wurde, daß ich den selbst auf
Trümmern noch plakatierten Endsieg überleben konnte, steht als Echo auf die
neue, die harte Währung geschrieben: »Zwei Wochen nach Einführung der DM in die
DDR: das Kind, das in den Brunnen fiel, wird schuldig gesprochen.«
    Jetzt,
zwanzig Jahre später, hängen die bloß angeschlossenen Bundesländer noch immer
am Tropf. Das Land entvölkert sich, Armut zieht ein und bleibt. Weil es an
Einsicht in getrennt gelebte Biographien fehlte, konnte die Rechnung
Aus-zwei-mach-eins keine Einheit ergeben.
    Jacob
Grimm, der in der Paulskirche erfahren hatte, wie schwer es den Deutschen fällt,
sich mit

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