Grau - ein Eddie Russett-Roman
schwierig sein, ihn ohne Schaden für andere Bewohner auszurotten.«
Ich wusste nicht genau, was Fundamentalismus bedeutete, aber wenn damit Hass auf das System gemeint war, dann traf es auf Jane zu. War das etwas Schlimmes oder nicht? Die vorgeschriebene Kleiderordnung zu ignorieren galt ja schon als schwerstes Vergehen – es dafür zu halten fiel mir schwer. Dem Apokryphen Mann schadete es ja auch nicht, und wir ließen ihn in Ruhe.
»Am besten wenden Sie sich mit dieser Frage an die Präfekten«, sagte ich matt. »Dreitausend Menschen leben in diesem Dorf, und ich hab vielleicht gerade mal dreißig kennengelernt.«
Der Colormann schüttelte den Kopf.
»Präfekten sind gute Menschen, aber ihnen geht es nur um Selbsterhalt und Bonuszahlungen. Mehr traue ich ihnen nicht zu. Sie haben Zane in Zinnober gesehen, also sind Sie irgendwie in die Sache verwickelt, und in den zwei Tagen, die Sie hier sind, haben Sie sich schon den Ruf erarbeitet, neugierig zu sein. Sie können es sich leisten, ungestraft herumzuschnüffeln. Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Mir fielen auf Anhieb fünf Dinge ein, und hätte man mir mehr Zeit gelassen, wäre ich sicher auf ein gutes Dutzend gekommen.
»In diesem Dorf gibt es wenig, was nicht ungewöhnlich wäre«, gestand ich, »aber im Zusammenhang mit dem, wovon Sie sprechen, fällt mir gerade nichts Konkretes ein.«
Wieder sah er mich lange an und nahm dann den Umschlag vom Tisch.
»Enttäuschen Sie mich nicht«, sagte er und reichte mir das Dokument.
Er ließ mich allein auf der Fensterbank zurück, und ich ging daran, meine Einschätzung von Jane nicht gerade umzuwerfen, aber doch zu überdenken. Sie war in den Diebstahl der Farbmuster verwickelt gewesen, zusammen mit Ocker und Zane. Irgendwo schwirrten zwanzigtausend Meriten herum, und sie waren nicht bei Ocker gelandet – Lucy hatte mir gesagt, dass sie keinen Cent besaßen. Drei Personen waren an der Gaunerei beteiligt gewesen, und nur eine lebte noch. Lauter unschöne Gedanken, mir brummte der Kopf. Aus persönlicher Erfahrung wusste ich, dass Jane zu einem Mord fähig war, und sie mochte es nicht, wenn ich Fragen stellte. Irgendwas führte sie im Schilde, das stand fest. Was war es? Sollte ich Jane doch verpetzen und die dicke Belohnung einstecken, die mich erwarten würde?
Die Chromogenzija
9.7.12.06.098 : Jeder Bewohner mit einer mindestens 50 %igen Farbwahrnehmung zählt zur Chromogenzija und hat Anspruch auf die in Anhang D aufgelisteten Privilegien.
Mein Vater richtete sich die Krawatte zum zehnten Mal und drückte dann die Klingel neben Mrs Ockers Haustür. Schon lange hatte er nicht mehr so großen Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt wie heute, also musste ich annehmen, dass er sich für Mrs Ocker interessierte. Ich wusste, dass er sich manchmal einsam fühlte. Wir beide sprachen nie über meine Mutter, es war zu schmerzhaft, aber er hatte ein Bild von ihr in seinem Koffer, ich auch.
»Mach nur den Mund auf, wenn ein Mitglied der Chromogenzija dich anspricht«, ermahnte er mich noch, als wir Schritte im Haus vernahmen, »und tu bitte nichts, was meine Chancen bei Velma vermindern könnte.«
»Velma?«
»Mrs Ocker.«
»Ach so.« Erst jetzt wurde mir klar, wie weit die Sache schon gediehen war. »Gut.«
Die Tür wurde geöffnet.
»Wie schön, dass Sie kommen konnten!«, begrüßte uns Mrs Ocker. Sie trug ein spektakuläres rotes Abendkleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte und wie eine umgearbeitete Version des Standardkleids Schulterfrei Nr. 21 aussah. Der Blick meines Vaters wanderte genüsslich an ihr herab, in einem Moment, als er meinte, sie würde wegschauen, doch sie hatte es bemerkt und fühlte sich geschmeichelt.
»Ich bitte Sie, so eine Einladung hätten wir um nichts in der Welt ausgeschlagen«, sagte mein Vater. »Bitte schön, die sind für Sie.«
»Rosen!«, rief sie. »Himmlisch!«
Sie wandte sich ihrer Tochter zu, die gerade in der Nähe war.
»Lucy, meine Liebe, würdest du bitte eine Vase mit Wasser holen? Edward, wie schön, dass ich Sie auch mal kennenlerne. Ist das der Reispudding? Wunderbar. Stellen Sie ihn bitte in die Küche. Lucy zeigt Ihnen den Weg.«
Ich folgte Lucy in die Küche, sah ihr dabei zu, wie sie eine Vase aussuchte, Wasser einlaufen ließ und dabei ordentlich spritzte.
»Hast du schon gehört, dass meine Mutter und dein Vater zusammen im Gefallenen Mann Tee getrunken haben?«
»Nein, ist mir noch nicht zu Ohren gekommen.«
»Sie
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