Grau - ein Eddie Russett-Roman
ich, aber sie antwortete nicht, kletterte durchs Fenster, drehte sich um und gab ihrem unsichtbaren Komplizen unten zu verstehen, er könne die Leiter wegnehmen. Dann schloss sie das Fenster wieder, sprang lautlos auf den Teppich und fing ohne ein weiteres Wort an, sich auszuziehen, wobei sie mich verschämt anlachte. Ich kann nicht verhehlen, dass ihre Art etwas Betörendes hatte. Immerhin gehörte Violetta nicht zu den Mädchen, die irgendwas dem Zufall überließen, also hatte sie diese Szene hier zweifellos vorher durchgeprobt.
»Du hattest kein Recht, mein halbes Versprechen an Constance zu widerrufen.«
»Das dürfte meine Mutter gewesen sein«, sagte sie. »Meine Güte, ganz schön frech von ihr. Aber wenn sie sich einen sehnlichen Wunsch ihrer Tochter erst mal selbst in den Kopf gesetzt hat, dann ist sie nicht mehr zu bremsen.«
»Es ist nicht nur frech, Violetta. Es ist unverzeihlich und unverschämt.«
»Krieg dich wieder ein, Edward. Du hast mich gestern Abend versetzt. Das ist mehr als unverschämt. Wenn ich nicht so schrecklich verliebt in dich wäre, wäre ich jetzt zutiefst gekränkt.«
»Hör zu, ich … «
»Ich bin darüber nicht verärgert, Süßer. Der Weg zur Ehe ist manchmal steinig, aber ich bin bereit, dir zu vergeben, so wie du ganz bestimmt auch bereit sein wirst, meiner Mutter zu vergeben, dass sie dieser dahergelaufenen Oxblood gesagt hat, wohin sie sich verdrücken soll.«
»Ich will dich nicht heiraten, Violetta.«
»Jetzt sei bitte nicht albern, Schätzchen. Du wirst fünf Farbtöne überspringen und Roter Präfekt werden. Ich werde irgendwann Oberpräfektin sein, und unser starker Purpursprössling wird auf immer und ewig über die Einwohner von Ost-Karmin herrschen. Und ich, du und dein Vater können uns die Taschen füllen. Außerdem hat Daddy Marmelade. Alles in allem gibt es also bei dieser Sache nur Gewinner.«
»Warum bist du dann hergekommen, wenn sowieso alles längst entschieden ist?«
»Mein Vater hat ein Angebot gemacht, das deiner farblichen Ausstattung entspricht, aber ich will sichergehen, dass du auch ansonsten der Richtige für mich bist. Also, was denkst du?«
Mittlerweile war sie vollkommen nackt. Violetta, so schien es mir, wollte mir die Möglichkeit zu einer Intimen Beurteilung geben. Natürlich hatte ich schon viele Mädchen nackt gesehen, und viele hatten mich nackt gesehen – beim Schwimmen, in Umkleideräumen, in Gemeinschaftsduschen. Wenn das Hockeyspiel nicht in so eine Rauferei ausgeartet wäre, hätten wir uns bei der Gelegenheit danach in der Umkleidekabine auch schon nackt gesehen. Etwas ganz anderes war es natürlich, seinen Körper einem potentiellen Kandidaten während der vorehelichen Brautwerbung vorzuführen. In diesem besonderen Fall zeigte mir Violetta also nicht nur ihren Körper, sondern demonstrierte mir ihren Wunsch, auch ich möge diesen Körper zu sehen begehren. Von mir wiederum wurde verlangt, dass mein Blick auf ihn deutlich zu verstehen gäbe, dass ich diese Geste zu würdigen wüsste.
Ich gab mir große Mühe, Violetta nicht anzusehen, aber ich muss leider sagen, dass es mir schwerfiel. Ihre Postleitzahl war kunstvoll in die Haut geritzt, unter Verwendung einer Type, die gleichermaßen verlockend und verrucht war, und auch alles andere an ihr war ziemlich perfekt. Es war keine leichte Situation für mich, und wenn nicht mein inniger Wunsch, es wäre Jane, die vor mir stünde, meinen Realitätssinn und meine Selbstdisziplin für einige Sekunden überwältigt hätte, hätte sie das Ganze als kompletten Reinfall betrachten können und wäre innerhalb kürzester Zeit wieder verschwunden. So aber strahlte sie mich glücklich und zufrieden an, und ehe ich michs versah, war sie in mein Bett gekrochen.
»Violetta!«, sagte ich ebenso überrascht wie schockiert. »Was tust du?«
»Ich will nur ganz sicher sein. Wir wollen doch nicht heiraten, nur um dann festzustellen, dass wir uns geirrt haben, nicht wahr? Das wäre schrecklich.«
»Die Regeln, Violetta … «
»Die Regeln! Mein Vater reguliert die Regeln, Süßer.«
»Und deine Mutter? Was würde die dazu sagen?«, fragte ich, um sie zu beschämen. Es war ein müder Versuch.
»Sie hat mich doch erst auf die Idee gebracht.«
Nervös sah ich aus dem Fenster.
»Sie beobachtet uns aber doch nicht, oder?«
»Natürlich nicht, Schätzchen. Sie hat nur gesagt, wir sollten mal testen, ob auch alles richtig funktioniert – aus rein dynastischen Gründen, versteht sich, auf keinen
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