Grau - ein Eddie Russett-Roman
an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte immer geglaubt, meine Mutter wäre diejenige mit der starken Farbwahrnehmung gewesen, aber so war es nicht. Sie hatte nur 23,4 % Rotwahrnehmung. Mein Dad hatte 50,23 %. Man brauchte kein mathematisches Genie zu sein, um sich auszurechnen, dass meine Siebzig-plus-Wahrnehmung nur auf erkaufte Elternschaft zurückzuführen war. Vielleicht galt das für die meisten Leute. Vielleicht funktionierte es nur so. Dad hatte nicht geheiratet, um die Russett-Linie mit mehr Rot auszustatten, sondern aus einem viel ehrenwerteren Grund, so wie ich es für mich selbst erhoffte.
»Und wer war der Mann, der mich gezeugt hat?«, fragte ich schließlich.
Er sah mich wieder lange an und sagte dann leise: »Manche Fragen sind nicht so leicht zu beantworten.«
Er schaute auf die Uhr.
»Kurz nach neun. In einer halben Stunde musst du im Gesellschaftsanzug am Rathaus sein. Ich lasse dir schon mal ein Bad ein.«
Vor dem Rathaus stand Tommo und redete mit Doug. Wir hatten noch zehn Minuten, bis wir hintereinander einmarschieren und im Vorraum warten mussten, aber es war schon Tradition, dass diejenigen, die die Testkarten gezeigt bekamen, früher eintrafen und sich draußen noch mit Eltern oder Freunden unterhielten oder mit Bewohnern berieten, die den Test im Vorjahr abgelegt hatten. Violetta war da, zusammen mit Daisy und Imogen, die sehr hübsch aussah und sehr nervös war. Sie und Dorian hatten sich mit dem Colormann geeinigt und würden noch am selben Nachmittag mit dem Zug abreisen. Von den zehn Prüflingen hatten bereits sieben eine Ehe vereinbart, die bei manchen aus jahrelangem Geschacher hervorgegangen war. Tommos Fantastische Eheliga war zwar als Witz gemeint, aber das Prinzip war authentisch. Der Tag des Ishihara war der Tag, an dem sich das Leben für einen entschied. Ein Segen für die, die keinen Wert darauf legten, eigene Entscheidungen zu treffen, für alle anderen ein Fluch.
Ich sah Violetta im Kreis ihrer Familie, doch als sie mich bemerkte, schaute sie schnell weg.
»Nervös?«, fragte Dad.
»Ein bisschen. Wie lange hat es bei dir gedauert?«
»Ungefähr zwanzig Minuten. Ein paar Minuten, um die dominierende Wahrnehmung festzustellen, dann ein bisschen Feinabstimmung für den Toleranzbereich. Die vielen Testkarten sollen sicherstellen, dass man auch die Wahrheit sagt, deswegen weiß man nie, ob es richtig oder falsch ist, positiv oder negativ, wenn man in den Farbpünktchen etwas erkennt oder nicht.«
Doug kam zu uns herübergeschlendert.
»Tut mir leid, dass du dich jetzt wieder mit Violetta abgeben musst«, sagte ich. »Ich tue alles, um dir behilflich zu sein, nur nicht sie heiraten.«
Er zuckte gutmütig mit den Achseln.
»Ich habe immer damit gerechnet, deswegen ist der Schreck nicht mehr ganz so groß.«
Tommo kam auf uns zu. »Habt ihr schon gehört? Dorian und Imogen wollen mit dem Fünfzehndreiundvierziger durchbrennen.«
Er wandte sich an Doug. »Apropos Heirat«, sagte er. »Du kannst mindestens drei Riesen von den von der Malves fordern. Wenn es keine bösen Überraschungen gibt, ist dir Violetta so gut wie sicher.«
»Drei Riesen?«, sagte Doug mit bebender Stimme. »So viel kann ich unmöglich verlangen!«
»Glaub mir«, sagte Tommo und legte eine Hand auf seine Schulter. »Von der Malve zahlt dir das garantiert, damit seine Tochter am Montagabend auf jeden Fall in der Hochzeitssuite im Grünen Drachen liegt. Wenn du willst, verhandle ich für dich. Ich brauche die Meriten, jetzt, da Eddie uns alle so enttäuscht hat.«
»Wenn du das für mich machen würdest«, sagte Doug. »Ich wäre dir sehr verbunden.«
Doug ging, um sich mit seiner Familie zu beraten, und Dad hatte Lucy und Mrs Ocker erspäht. Ich blieb mit Tommo allein, und wir schwiegen eine Weile. Ich würde demnächst Präfekt werden, und ich brauchte Tommo auf meiner Seite. Natürlich würde er niemals erfahren, was ich vorhatte, aber sein Geschick und seine Gerissenheit konnten von Nutzen für uns sein.
»Was machen die Rippen?«
»Zwei sind gebrochen.«
»Tut mir leid.«
»Und mir tut die Sache im Flakturm leid, dass wir dich dem Hungertod ausgeliefert haben. Es war Courtlands Schuld.«
»Ich weiß.«
Wir gaben uns die Hand und lachten verlegen. Die Freundschaft war noch nicht wieder gekittet, das brauchte seine Zeit.
»Guten Morgen.«
Ich drehte mich um. Jane trug ihre beste Graue Gesellschaftskleidung, das Haar geflochten, in die Zöpfe wilde Blumen eingewoben. Sie
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