Grau - ein Eddie Russett-Roman
stellte sich hinter mich, was mir unangenehm war.
»Aber bevor wir uns allzu sehr in Details verlieren, musst du etwas für uns tun. Wir wollen dich auf die Probe stellen.« Er beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Du hast Zugang zu dem Mustersafe deines Vaters. Also besorg uns etwas Lincoln. Wenn du das für uns tust, sind wir Freunde fürs Leben.«
Ich war baff. Das war eine neue Masche. Die meisten kleinen Gauner waren unkomplizierte Charaktere, die auf unverdiente Anerkennung und auf Bares aus waren. Der Diebstahl von Farbmustern war von einem ganz anderen Kaliber. Lincoln, oder 125–66–53, war ein chromatropisches Schmerzmittel, zehnmal stärker als Limone. Einmal mit dem Auge gelinst, und gleich senkte sich die Herzfrequenz, ein zehnsekündiger intensiver Blick auf die Farbe löste gar Verträumtheit, Weltfremdheit und Halluzinationen aus. Für manche war der Genuss dieser Farbe ein harmloser Zeitvertreib, doch Grüne riskierten den Verlust des Kortex. Zu viel Lincoln, und man konnte jegliches Farbempfinden verlieren, für natürliche und Univisuelle Farben. Mit Lincoln handeln hieß mit dem Elend handeln. Ich sah Tommo und Courtland abwechselnd an.
»Ich fürchte, ich kann euren Wunsch nicht erfüllen.«
Courtland sah mich ungerührt an, legte freundlich, aber bestimmt eine Hand auf meine Schulter und sagte mit leiser Stimme: »Wie heißt du noch mal?«
»Eddie.«
»Du musst dir darüber im Klaren sein, Eddie, dass ich sehr wahrscheinlich der ranghöchste Gelbe sein werde, den du je zu deinen Freunden wirst rechnen dürfen. Und Freundschaft, da wirst du mir zustimmen, ist ein äußerst nützliches Gut, wenn du den Rest deines Lebens in diesem Kaff verbringen willst.«
»Ich bleibe nur einen Monat.«
»Warst du so blöd und hast von der Malve deine Fahrkarte gegeben?«
»Ja.«
»Dann bleibst du uns möglicherweise länger erhalten. Aber das Entscheidende ist dies: Unser Dorf um ein paar Lincoln-Muster zu betrügen ist nur ein Scheinregelverstoß. Langfristig ist es eine sehr kluge Investition, meinst du nicht auch?«
Es sollte rein geschäftsmäßig klingen, doch schwang ein stark drohender Unterton mit. Aufgeblasene Alpha-Primäre waren mir zuvor schon einige untergekommen, aber nie waren sie so dreist vorgegangen. Ich sah zu Tommo, der am Fenster stand und Ausschau nach Präfekten hielt.
»Das ist doch eigentlich ziemlich einleuchtend, oder?«, sagte er.
»Ich klaue meinem Vater kein Lincoln-Muster«, sagte ich.
»Oh, oh«, sagte Tommo. »Skrupel?«
»Ich habe nie auch nur angedeutet, dass du deinem Vater irgendetwas stehlen sollst«, murmelte Courtland mit einem Lächeln. »Ein fehlendes Lincoln-Muster würde den Präfekten nur den Schweiß auf die Stirn treiben. Nein, nein. Tommo hat eine viel bessere Idee.«
»Es funktioniert so«, griff Tommo sein Stichwort auf. »Wenn dein Vater das nächste Mal die Muster nachbestellt, schleichst du dich in sein Büro und schreibst in die Bestellspalte für Lincoln einfach eine 2. Er wird es gar nicht merken, und von der Malve sehr wahrscheinlich auch nicht. Wenn NationalColor die Muster dann liefert, brauchst du den überschüssigen nur noch abzugreifen. So einfach ist das.«
»Und wenn mein Vater gar kein Lincoln bestellt?«
»Weißt du es denn noch nicht? Robin Ocker hat die Muster des Dorfes auf dem Beigemarkt verkauft. Der Revisor aus Blaustadt hat mir gesagt, er habe fast den gesamten Bestand verhökert.«
Das also waren die »Unregelmäßigkeiten«, von denen von der Malve im Zusammenhang mit Ockers Ableben gesprochen hatte. Sein Verhalten verletzte wirklich alle Grundsätze, die zu achten jeder Mustermann einen Eid geleistet hatte. Von der Malve hatte recht: Die fatale Selbstfehldiagnose war vielleicht das Beste, was ihm passieren konnte.
»Ein brillanter Plan«, pflichtete ich ihm bei.
»Großartig! Und denk dran: Wenn du etwas brauchst, egal was, du musst mich nur fragen. Wir können so gut wie alles organisieren, stimmt’s, Tommo?«
»Allerdings«, antwortete er. »Nur deine offene Rückfahrkarte können wir nicht wiederbeschaffen – oder ein Rendezvous mit Crazy Jane für dich klarmachen.«
Courtland lachte laut los.
»Weißt du noch, wie Jabez sie mal zu einem Tanztee einladen wollte?«
»Ja«, sinnierte Tommo, »bis dahin wusste ich gar nicht, dass man eine Augenbraue tatsächlich ausreißen kann.«
»Dann sind wir uns also einig, was das Lincoln betrifft.«
Er lachte mich wieder an, klopfte mir auf die Schulter und
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