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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Spectrum blätterten oder mit leerem Blick die Plakate an den Wänden anstierten, hauptsächlich Transparente mit öffentlichen Verlautbarungen. Auf einem wurde erklärt, warum Simulieren eine Vernachlässigung der Zivilen Pflicht und einen Verlust von Arbeitszeit für die Dorfgemeinschaft darstellte. Ein anderes gab den Rat, sich nach der Berührung eines Gegenstandes, der vorher möglicherweise von Gesindel angefasst worden war, die Hände zu waschen. Und auf einem dritten wurde davor gewarnt, dass voreheliche Ausübung DesEinen zu einer Absenkung der Persönlichen Standards führen könne, letztlich zu Disharmonie und, bei Fortdauer, zum Reboot.
    Das Sprechzimmer meines Vaters war durch Milchglaspaneele abgetrennt, hinter denen ich schemenhaft sich bewegende menschliche Umrisse erkennen konnte. Ich wartete, bis ein Patient aus dem Zimmer herauskam, und bevor mein Vater »Der Nächste, bitte!« rufen konnte, klopfte ich an die Tür und trat ein.
    Der Raum sah fast genauso aus wie der in Jade-unter-der-Limone, nur größer. Es gab ein Sofa, ein Röntgengerät, den Mustersafe und an der Wand mehrere mit Glastüren versehene Hängeschränke, gefüllt mit Verbänden und Instrumenten. Die Decke war verglast, aber mir fiel auch eine Bogenlampe auf einem fahrbaren Gestell auf, die an eine Dose in der Wand angeschlossen war.
    »Ach, du bist es nur!«, sagte mein Vater, als er mich sah. »Welche Erleichterung.«
    Er stand auf, ging zu einem Aktenschrank, stopfte eine Mappe in das Hängeregister und schob die Schublade wieder zu.
    »Du hast fünf Minuten«, sagte er und kramte in einem Stapel Behandlungsanträge, die alle seine rückdatierte Unterschrift erforderten. »Ocker hat die Praxis in einem chaotischen Zustand hinterlassen. Ich muss zum Monatsende bei fünf Frauen den richtigen Zeitpunkt für die Chromovulation bestimmen, der Schnupfen ist auf dem Vormarsch, und – jetzt halt dich fest! – Ocker hat die Farbmuster des Dorfes gestohlen und verkauft!«
    »Im Dorf kochen die Gerüchte hoch«, sagte ich, als hätte ich das Ohr am Geschehen. »Wie viele sind denn weg?«
    Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und schüttelte betrübt den Kopf.
    »Ich habe sie nicht alle inventarisiert, aber es sind an die fünfhundert, gestohlen über einen Zeitraum von sieben Jahren – ein klarer Verstoß gegen fast siebenundzwanzig Regeln und gegen den Eid der Chromatikologen!«
    »Wow!«, entfuhr es mir, überwältigt von Ockers Unverfrorenheit. Die Einhaltung der Rechtsgrundsätze wurde nicht nur durch drakonische Strafen garantiert, sondern auch durch die Tatsache, dass Verbrecher immer gefasst wurden.
    »Wir haben nur noch ein paar hundert Stück«, sagte Dad, ging zu dem Mustersafe und durchsuchte die quadratischen, zwanzig mal zwanzig Zentimeter großen Schutzumschläge, in denen die Farbmuster steckten. »Es sind hauptsächlich die, die er auf dem Beigemarkt nicht verkaufen konnte, also Farbtöne, mit denen man Fußpilz, Haarausfall bei Männern und übermäßige Faltenbildung am Scrotum behandelt.«
    »Es war also gar keine tödliche Fehldiagnose, nicht?«
    »Ich glaube nicht. Von der Malve meint, er habe zu tief in die Farbskala geschaut. Tiefer als Limone, vielleicht sogar tiefer als Lincoln.«
    »Glaubst du, dass er sich Grünes Licht geben wollte?«
    Dad zuckte mit den Schultern.
    »Ich weiß es nicht. Wenn ja, dann ist es kein Wunder, dass der Rat die Untersuchung der Todesursache abgeschmettert hat. Er wollte Ockers Familie und den übrigen Dorfbewohnern damit einen Gefallen tun.«
    Das erklärte den Befund der Fehldiagnose. Sich Grünes Licht geben, das machten die ganz harten Grünlinser, wenn ihr Kortex so verbrannt war, dass selbst Lincoln nicht mehr anschlug. Sie begaben sich in den Grünen Raum und nahmen die Farbe, die dort verstrichen war, ganz in sich auf – eine Grünschattierung, die man nur ein einziges Mal in seinem Leben sah, nämlich dann, wenn es Zeit wurde abzutreten. Die Farbe im Grünen Raum nannte sich »Süßer Traum«, und sie bewirkte, dass man nach zwölf Minuten bewusstlos wurde, nach sechzehn Minuten war man tot. Doch in diesen zwölf Minuten entbrannte jede Synapse im Gehirn zu funkelnden Fontänen der Lust. Die Schreie der Kranken aus dem Grünen Raum waren keine Schmerzens- oder Angstschreie. Es waren Schreie der Ekstase.
    Gab sich also ein nicht an Mehltau Erkrankter illegal Grünes Licht, so war es ein Spiel mit dem Feuer. Erwischte man den richtigen Zeitpunkt, um die

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