Grau - ein Eddie Russett-Roman
nonchalant ein. »Cassie hat auch keinen Bruder, und die Existenz von Simone, Lisa, Torquil und Geoff ist ebenfalls strittig. Aber sie erweitern den Heiratsmarkt, und wir dürfen uns der Illusion einer größeren Auswahl hingeben.«
»Dafür«, ergänzte Daisy lächelnd, »sind wir dir alle äußerst dankbar.«
»Eigentlich«, sagte Tommo, »macht sich Eddie erstaunlich gut, meine liebe Daisy. Aber für mein abschließendes Urteil über seine ehelichen Qualitäten will ich erst noch abwarten, wie er sich in dem Hockeyspiel Mädchen gegen Jungen schlägt.«
»Wie bitte?«, sagte ich. Von dem Spiel hörte ich zum ersten Mal.
»Es ist alljährliche Tradition in Ost-Karmin«, erklärte Tommo. »Wir lassen die Mädchen gewinnen, und sie gehen glücklich und zufrieden vom Platz.«
Daisy sah mich an und verdrehte die Augen.
»In Wahrheit machen wir euch nach Strich und Faden fertig, bis ihr nicht mehr auf zwei Beinen stehen könnt. Eure Demütigung ist jedes Mal ein Hochgenuss für uns«, sagte sie. »Ah, entschuldigt mich bitte. Ich muss noch jemanden sprechen, bevor von der Malve uns wieder mit seinen Reden langweilt, dass einem die Füße einschlafen.«
Kaum war sie gegangen, fragte Tommo: »Wie findest du sie?«
»Ganz angenehm.«
»Siehst du. Ich habe dir doch gesagt, dass ich dieses Eheanbahnungsspiel gut beherrsche.«
»Hallo.« Ein blasser Junge setzte sich neben mich. »Ich bin Doug, Daisys Bruder. Ich habe gehört, dass du meine Schwester heiratest.«
»Wenn es nach Tommo geht.«
»Du wirst nicht enttäuscht sein«, versicherte er mir. »Sie hat einen feinen Humor, und sie kann irre gut küssen – wenn auch mit ein bisschen zu viel Zunge für meinen Geschmack.«
Ich muss entsetzt geguckt haben, denn Doug unterdrückte ein Lachen und wurde von einem Jungen neben ihm angestoßen, worauf sich beide schüttelten vor verhohlener Heiterkeit. Natürlich wollte ich etwas wahnsinnig Witziges und Altkluges darauf erwidern, aber mir fiel nichts ein, und ich grinste nur geziert.
»Wem gehört denn der Zeh hier?«, fragte Doug, als der kleine schwarze Klumpen beim Einschenken aus dem Wasserkrug in sein Glas rutschte.
»Tommo.«
Er fischte ihn heraus und steckte ihn heimlich in ein Glas, das etwas weiter unten am anderen Ende der Tafel stand.
»Guten Tag, Edward.«
Dad war gerade an unseren Tisch gekommen, und er war nicht allein. Er kam in Begleitung einer Frau, die etwa so alt war wie er, also Ende vierzig. Sie trug ein strahlend helles rotes Kleid, das glitzerte, wenn sie sich bewegte, und sie war großzügig behängt mit Schmuck aus ebenfalls hellroten Edelsteinen in silbernen Fassungen. Wahrscheinlich verstieß ihre Ausstattung gegen mehrere Kleidervorschriften sowie das Verbot von Prunk und Protz, aber ich konnte niemanden entdecken, der sich darüber empörte, denn sie sah einfach umwerfend aus.
»Guten Tag, Sir«, sagte ich betont höflich. Dass er mich »Edward« nannte, bedeutete, dass er mit einer Dame zusammen war, auf die er Eindruck machen wollte.
»Darf ich vorstellen? Das ist Mrs Ocker«, erklärte mein Vater. »Eine alte Freundin.«
»Guten Tag«, begrüßte ich sie. Ihre Staffage war eine seltsame Art, Trauer zu zeigen, fand ich, es sei denn, das schwarze Samthalsband stand hierfür als Zeichen.
»Sie hat uns heute Abend zum Treffen der Debattiergesellschaft der Chromogenzija eingeladen«, fuhr mein Vater fort.
Da ich meinen Ishihara noch nicht abgelegt hatte, verfügte ich offiziell nicht über die erforderliche fünfzigprozentige Farbwahrnehmung, um zur Chromogenzija zu gehören, doch Kinder von Mitgliedern durften an der Gesellschaft teilnehmen, wenn sie bereit waren, ein bisschen auszuhelfen. Graue waren von diesen Versammlungen ausgeschlossen, damit die Gesprächsrunden sie nicht ›auf Ideen brachten‹.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Die Einladung nehme ich gerne an.«
Ich fand Mrs Ocker recht angenehm, wenn auch eine Spur zu kokett und mehr als nur ein bisschen zu sehr herausgeputzt. Ihr jetzt zu offenbaren, wie Lincolnselig ihre Tochter heute Morgen gewesen war, wäre geschmacklos gewesen, deswegen sagte ich nur, es hätte mich gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen, und ich sprach ihr mein Beileid über den Verlust ihres Mannes aus. Sie bedankte sich und sagte, die Debattiergesellschaft freue sich auf uns – ach, und ob ich bitte einen Reispudding mitbringen könne.
Die Unterhaltung ging unter im dröhnenden Lärm Hunderter Stühle, die nach hinten gerückt wurden. Jeder
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