Graue Schatten
gewesen sein soll?“
Der Pfleger stellte das Essen auf einem Nachttisch ab. Im dazugehörigen Bett lag eine, wie Strobe fand, für ein Pflegeheim zu junge Frau. Max zog die Bewohnerin im Bett bis ans Kopfende nach oben, stopfte ihr verschiedene Kissen von allen Seiten unter den Körper und erklärte dabei: „Frau Degner hat mir am Montagnachmittag genau das erzählt, was ich in die Doku eingetragen habe. Dass in der letzten Nacht ein grauer Schatten in ihrem Zimmer gewesen sei und sie nun Angst habe, im Dunkeln zu schlafen.“
Nun drückte Max auf eine Fernbedienung. Das Kopfteil des elektrischen Pflegebettes fuhr langsam nach oben.
„Und sie möchte, dass das Licht im Bad an bleibt“, ergänzte Strobe.
„So ist es. Frau Degner kennt Herrn Eiche überhaupt nicht. Dass er in ihrem Zimmer war, hat sich nur jemand zusammengereimt, und dann ist ein Gerücht draus geworden.“
Max schob der Frau, die Strobe auf maximal vierzig schätzte, und die nun mehr oder weniger im Bett saß, ein aus dem Nachtschränkchen ausgeklapptes Tischchen hin.
„Sie würden also auch sagen, dass sich die verwirrte Frau irgendwas ausgedacht hat. Vielleicht hat sie schlecht geträumt?“ Strobe war wieder einmal ein wenig enttäuscht. Er hatte gehofft, wenigstens ein winziges Puzzleteil vom Bild eines Mörders in der Hand zu halten, der ganz anders als Kevin Linde aussah.
„Würde ich nicht. Ich würde nicht mal behaupten, dass sie verwirrt ist“, entgegnete Max. „Ist nicht mehr heiß, Frau Öchsle. Zwiebelsuppe.“
Strobe sah dem Pfleger zu, wie er der Frau im Bett einen Löffel Suppe einflößte. Wollte er damit sagen, dass jemand anders in ihrem Zimmer war?
„Dass sie verwirrt ist, hat aber Ihr Schichtleiter, der Herr Stiller behauptet“, bemerkte Strobe.
„Na ja. Das ist auch zum Teil richtig. Die Frau Degner ist zeitlich etwas desorientiert. Vor allem tagsüber. Sie geht kaum raus, verschläft meistens den halben Tag, und weiß dann oft nicht, ob es Frühstück oder Abendessen gibt. Mit Datum oder Wochentag braucht man ihr überhaupt nicht zu kommen. Sie ist schwer depressiv und solche Sachen sind ihr schlicht egal. Sie lebt in der Vergangenheit.“
Er hatte Frau Öchsle mittlerweile die halbe Schüssel Suppe eingeflößt. Offensichtlich schmeckte sie ihr. Plötzlich lief sie rot an, würgte und verdrehte die Augen.
„Soll ich Alarm drücken?“ Strobe sprang zur Tür und hatte den Finger schon auf dem Knopf. Offensichtlich hatte die Frau etwas in die falsche Kehle bekommen.
„Nee, nee. Ist schon vorbei“ Der Pfleger war anscheinend wenig beunruhigt. Die Frau röchelte nun bei jedem Atemzug, aber öffnete schon wieder, gierig, wie es schien, den Mund, als Max ihr den nächsten Löffel Zwiebelsuppe hinhielt.
„Schön langsam“, sagte er zu ihr.
„Sie haben ja Nerven“, bemerkte Strobe mit Bewunderung.
„Die brauch man hier. Das war jetzt noch gar nichts“, erklärte Max und fügte hinzu: „Frau Öchsle wäre uns schon öfter wirklich erstickt. Stimmt's Frau Öchsle?“
Die Frau im Bett gurgelte so etwas wie eine Bestätigung.
Strobe hätte es interessiert, wie jung sie war und ob sie verstand, worüber er sich mit dem Pfleger unterhielt. Aber er wollte zurück zum Thema. „Also, Frau Degner ist zeitlich desorientiert, sagten Sie. Das heißt, sie kriegt noch mit, was um sie herum passiert, weiß nur nicht, wann es passiert?“
„Kann man so ausdrücken.“
„Und was bedeutet das auf das Erlebnis mit dem grauen Schatten bezogen?“
„Ich glaube nicht, dass sie sich das ausgedacht hat. Sie hat sich noch nie so etwas ausgedacht. Sie hat auch keine Halluzinationen, nur eine sehr blumige Ausdrucksweise, wenn sie mal ein paar Worte sagt. Früher arbeitete sie im Theater, unter anderem als Souffleuse. Mit grauer Schatten meint sie wahrscheinlich nur, dass sie von der Person, die in ihrem Zimmer war, im Dunkeln nicht viel gesehen hat.
Wenn man sich mal ein bisschen Zeit für sie nimmt, merkt man, dass sie noch genau weiß, was vorgeht, wer sie ist, wo sie lebt, dass ihr Mann tot ist, ihre Kinder im Ausland sind, sogar welche Medikamente sie bekommt und solche Sachen. Aber die Zeit hat kaum einer, das ist das Problem. Dass sie fast nichts redet, vor allem nicht mit jedem, macht es noch schwieriger. Man kann schwer einschätzen, was in ihr vorgeht. Und deshalb meinen viele, sie sei völlig verwirrt.“
„Und mit Ihnen redet sie?“
„Ja. Fragen Sie nicht warum.“
„Gut. Sie denken also, es war
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