Graue Schatten
Stiller dem Hauptkommissar.
„Warum haben Sie mir nichts davon erzählt, dass Herr Eiche nachts in fremde Zimmer geht?“, fragte der.
„Ach, wer sagt denn das? Frau Blanck?“ Stiller stellte das Medikamententablett auf die Anrichte, nahm einen gelben Becher weg und ging zum nächsten Tisch.
„Frau Rudolf!“, rief er der teilnahmslos dreinblickenden Frau ins Ohr. Die nickte.
„Sie müssen Ihre Medikamente nehmen. Für den Blutdruck.“
Er hielt ihr den Becher vors Gesicht und sagte zu Strobe: „Alles Humbug. Kann überhaupt nicht sein. Der Mann wird nachts so stark sediert, dass er unmöglich aufstehen kann.“
Er wandte sich wieder der Bewohnerin zu.
„Frau Rudolf! Hallo, die Medikamente!“
Sie verharrte regungslos, starrte lediglich auf den Becher. Er führte ihn zum Mund der Frau. Im gleichen Moment ergriff sie Bodos Hand mit dem Becher und drückte ihn von sich weg.
„Will heute nicht. Kann man nichts machen“, resignierte der Pfleger.
Strobe wartete auf eine Erklärung. Bodo Stiller stellte den Becher wieder auf das Tablett. „Eine Bewohnerin hat anscheinend erzählt, dass Herr Eiche nachts in ihrem Zimmer gewesen sei. Aber die Frau ist verwirrt, und sonst hat niemand etwas davon bemerkt. Auch die Nachtwache nicht.“
„Die Nachtwache, das heißt, Herr Linde?“
„Richtig, Herr Linde. Frau Degner hat es erst am nächsten Nachmittag einem Pfleger erzählt, der hat es ohne Wertung in die Doku eingetragen, was ja auch korrekt war. Aber dann hat der Unsinn halt die Runde gemacht. Das ist der Pfleger übrigens.“
Bodo Stiller deutete auf den langen Dünnen, der gerade dabei war, die Tabletts mit dem Mittagessen aus dem Warmhaltewagen sowie die Deckel von den Tellern zu nehmen, und die Tabletts zu verteilen.
„Der kann Ihnen vielleicht mehr dazu sagen“, fügte Stiller noch hinzu.
„Versuchen wir es. Danke.“ Strobe steuerte auf den Langen, den er gestern schon befragt hatte, zu.
„Na, sind Sie mit dem Riesen noch fertiggeworden?“, sprach er ihn an.
„Ja. Zu zweit kein Problem.“
„Hat er denn solche Kräfte, der Herr Eiche, dass man ihn allein nicht in die Badewanne kriegt?“
„Die hat er. Obwohl er ständig Beruhigungsmittel bekommt. Zumindest wenn er so durcheinander ist wie vorhin, sollte man zu zweit sein.“
Der Pfleger flitzte mit einem dampfenden Teller in ein Zimmer. Roulade mit Kartoffeln und Rotkraut, der Koch war wohl kein Schwabe. Sieht trotzdem nicht schlecht aus, dachte Strobe. Dennoch hatte er keinen Appetit, was für ihn, selbst wenn es erst halb zwölf war, nicht normal war. Die Erinnerung an den Geruch, der jetzt vom Essen überdeckt wurde, war einfach noch zu gegenwärtig.
Der Pfleger kam wieder.
„Ich sehe, Sie haben gerade viel zu tun. Ich möchte nur wissen, wie die Frau heißt, bei der Herr Eiche im Zimmer gewesen sein soll“, fragte der Hauptkommissar. Ihren Namen hatte er tatsächlich schon wieder vergessen.
„Nicht Herr Eiche ...“ Der Pfleger ließ den Satz unbeendet und winkte ab. „Frau Degner war das. Zimmer 213.“
Danke. Strobe entschloss sich, den gestressten Pfleger nicht weiter von seiner Arbeit abzuhalten. Er könnte ihn später fragen, was er gerade angedeutet hatte. Er ging ins Schwesternzimmer und zog die Kartei von Elvira Degner aus dem Karteiwagen. Als Erstes schlug er das letzte Berichtsblatt auf und versuchte ohne seine Lesebrille die Klaue zu entziffern. Glücklicherweise war die Schrift relativ groß. Eine der letzten Eintragungen, am vergangenen Montag fünfzehn Uhr gemacht, lautete: Frau Degner hat vom „grauen Schatten“ berichtet. Er sei letzte Nacht in ihrem Zimmer gewesen. BW hat jetzt Angst, im Dunkeln zu schlafen, bittet darum, nachts Licht im Bad anzulassen.
Er blätterte zurück. Die nächstältere Eintragung war vor Sonntag gemacht worden. Über Herrn Eiche stand kein Wort drin. „Grauer Schatten“ – das klang nach überspannter Fantasie.
Strobe steckte die Kartei wieder in den Wagen und trat auf den Flur. Zimmer 213 befand sich ein paar Meter weiter vorn. Vor dem Aufenthaltsraum half nun auch die stämmige Schwester das Essen zu verteilen. Der Lange schob den Wärmewagen in Strobes Richtung den Gang nach hinten. Der Hauptkommissar ging ihm entgegen.
„Könnten Sie mir doch kurz ein paar Fragen beantworten?“
„Klar, während ich Frau Öchsle das Essen gebe.“
Er ging mit einem Tablett in Nummer 209, Strobe ihm nach. „Die Frau Degner hat also nicht erzählt, dass Herr Eiche in ihrem Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher