Graue Schatten
aus, dass die Frau entweder totgespritzt oder mit einem Kissen erstickt wurde. Aber da warten wir mal ab, was Dr. Schmidtke nachher zu berichten hat“, hielt Bacchus fest.
„Wer die Frau getötet hat, ist da schon eindeutiger, meiner Meinung nach. Ihrem Bericht vom Donnerstag habe ich entnommen, dass Linde einerseits bei den Mitarbeitern und Bewohnern des Heimes beliebt ist. Auf den ersten Blick ist er also harmlos. Es hat ihn niemand direkt belastet, aber das tun ja Arbeitskollegen untereinander gewöhnlich nicht.“
Schell nickte eifrig, Strobe wieder nachdenklich. Der Chef fuhr fort: „Wenn man aber zwischen den Zeilen liest und die verschiedenen Aussagen zusammen betrachtet, lassen diese schon Zweifel an dem ehrenwerten Pfleger aufkommen, nicht wahr?“
Der Kriminaloberrat blätterte im Bericht der Kommissare, der auch die Aussagen der Mitarbeiter enthielt, und las dann mehr oder weniger ab: „Er ist medizinisch überqualifiziert und in der Altenpflege eher unterfordert, sagt der Pflegedienstleiter. Eine seinen Fähigkeiten angemessene Tätigkeit im Krankenhaus kam für ihn nicht in Frage. Dort ging es ihm nicht menschlich genug zu. Was er damit gemeint hat, konnte er wohl nicht sagen?“
„Zu viel Gerätemedizin, zu viele lebensverlängernde Maßnahmen“, sprang Schell ein.
„Sagt wer?“
„Sein Kumpel Hartmut Locke.“
„Das steht aber nicht im Bericht, oder?“, fragte Bachmüller.
Strobe zog zum Zeichen seiner Unschuld Augenbrauen und Schultern nach oben und warf einen kurzen Seitenblick zu Schell.
„Interessant“, stellte der Chef fest, blätterte aber gleich weiter.
„Und auf Ihre Frage, ob Linde Schwierigkeiten mit den nicht natürlich verstorbenen Bewohnern hatte, sagt die Stationsleiterin zum Beispiel: Viele hatten mit bestimmten Bewohnern Schwierigkeiten, nicht nur Herr Linde. Sie habe Herrn Linde oft die schwierigsten Fälle anvertraut, weil er sehr kompetent sei, was die Behandlungspflege betrifft, und weil er immer sehr souverän wirkt. Da hört man doch schon Skepsis heraus, nicht wahr?“
Strobe runzelte die Stirn und machte eine Handbewegung die „Abwarten!“ bedeuten sollte.
„Das steht in Ihrem Bericht.“
„Ich sag ja gar nichts“, wehrte Strobe ab.
Bachmüller zitierte weiter aus der Zusammenfassung der Befragungen: „Danach sagt die Stationsleiterin: Mit seiner ruhigen, besonnenen Art ist Herr Linde bei seinen Kollegen gut angekommen. Sie habe sich nur gewünscht, dass er sich ihnen gegenüber mehr öffnen würde.“ Bacchus ergriff wieder seinen Stift und hielt ihn Strobe kurz entgegen.
„Auf Ihre Frage, Herr Strobe, in welcher Hinsicht er sich öffnen sollte, hat sie gesagt, er versuche manchmal hinter seinen medizinischen Kenntnissen und Fähigkeiten und hinter seinem Humor zu verstecken, dass ihm der Stationsablauf nicht so liege. Zum Beispiel, dass man die Bewohner so früh aus dem Bett holen müsste, und generell das zügige Arbeiten. Er sei eher ein gründlicher Typ ...
Man könnte diese Aussage auch so interpretieren: Seine Fähigkeiten werden nicht genügend gewürdigt. Er bekam möglicherweise nicht genügend Anerkennung oder Bestätigung. Und er ist eher ein Einzelgänger.
Außerdem hat Linde probeweise zehn Tage Nachtdienst gemacht, weil er ausprobieren wollte, ob ihm das eher liegen würde als der Tagdienst.“
Bachmüller blätterte um. „Herr Hartmut Locke. Lindes Kollege, der momentan auf der benachbarten Station arbeitet und mit Linde eng befreundet ist, hat auf Ihre Fragen hin ausgesagt, dass es schon vorgekommen sei, dass die eine oder andere Bewohnerin Todeswünsche geäußert habe, unter anderem Frau Sausele. Und er hat ausgesagt, dass er sich mit Linde einmal über Sterbehilfe unterhalten hatte. Das gehöre ja zu dem Beruf.
Last but not least: Lindes Freundin hat Herrn Linde nach fünf Jahre dauernder Beziehung am Sonntag verlassen ...“ Bachmüller schaute erst Strobe dann Schell an. Als keiner der beiden etwas sagte, erläuterte er: „So ein Einschnitt im Privatleben kann jemanden mit einer gewissen Stressanfälligkeit schon aus der Bahn werfen. Vor allem in einem so schweren Beruf.“
„Die anderen beiden Todesfälle ereigneten sich allerdings, bevor seine Freundin abgehauen ist“, warf Strobe ein.
„Aber ich vermute doch, dass es schon eine Weile vorher gekriselt hat“, gab der Chef zu bedenken. „Einfach so, aus heiterem Himmel, bricht eine Beziehung selten auseinander.“
Dem konnte Strobe nicht
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