Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
der Straße stehen. Wulf wurde bei dem Anblick an einen alternden Cowboy erinnert, der in einer verlassenen Westernstadt auf seinen Duellpartner wartete. Im Interesse aller hoffte er, dass dieser Gegner nie auftauchen mochte.
Als der zweite Kanister zu dreiviertel gefüllt war, versiegte der Treibstoffstrom. Wulf überkam im ersten Moment Panik, denn in ihrer Situation konnten sie von allem nicht genug bekommen. Doch die beiden Kanister sollten ausreichen, um mit beiden Wagen den nahen Highway zu erreichen. Dort würde es weitere Autos geben, deren Treibstoff sie sich besorgen konnten.
Er gab Murphy ein kurzes Zeichen und begann das Benzin in den Tank des Pick-ups zu füllen. Er schüttete ungefähr die Hälfte des abgezapften Treibstoffs in den Tank und spürte mit jedem verdammten Liter, wie die Anspannung etwas von ihm abließ. Sein Haar war mittlerweile nass vom Regen und hing wie ein Schleier vor seinem Gesicht. Wasser tropfte ihm in die Augen. Doch Wulf war dankbar für diese Abkühlung seiner Gedanken.
Den Rest des Benzins goss er in den Tank des Fords. Als er den Tankdeckel des alten Wagens verschloss, warf er einen Blick zu Demi. Im nächsten Moment glaubte er, dass sich die graue Landschaft wie ein heulender Schatten auf ihn stürzte. Die Beifahrertür von Murphys Wagen war nur angelehnt. Demi war verschwunden. Wulf ließ den Kanister fallen, eilte zur Tür und spähte ins Auto. Die Wolldecke des Mädchens lag als bunter Haufen im Fußraum.
»Demi«, rief er, jede Vorsicht außer Acht lassend.
Murphy, der einige Schritte vor dem Ford auf der Straße stand, wirbelte herum.
»Wo ist das Mädchen?«
Wulf rannte zu ihm und packte den alten Mann an der Schulter. Die Welt, durch die er sich bewegte, schien auf die Größe eines Stecknadelkopfs geschrumpft zu sein. Murphy starrte Wulf einen Moment ungläubig an. Dann rannte er zu seinem Wagen, riss die knarrende Tür auf und zielte mit dem Gewehr ins Wageninnere.
»Verdammt, Mädchen«, flüsterte er mit brechender Stimme und wandte sich hilflos an Wulf, der sich einmal um sich selbst drehte und seinen Blick durch den Ort wandern ließ.
Ein Geräusch zu ihrer Rechten ließ beide verharren.
Aus den dunklen Schatten des Gemischtwarenladens drang ein Poltern, als sei etwas zu Boden geworfen worden. Wulf lief zum Pick-up und wies Daryll durch Handzeichen an, im Wagen zu bleiben und die Tür verschlossen zu halten. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass er unbewaffnet war, rannte er über den schmalen, vom Regen glitschigen Betonweg zur Front des Ladens. Die Sorge um das Mädchen ließ ihn seine angeborene Vorsicht vergessen. Ein Aspekt, der ihn, als ihm der Geruch nach verfaulten Lebensmitteln und Staub entgegenschlug, wie eine Woge eiskalten Wassers überflutete. Im Augenwinkel bemerkte er, dass Murphy ihm schwer atmend folgte, das Gewehr im Anschlag.
Das Schaufenster des Geschäftes war dunkel. Wulf konnte die tiefhängenden Wolken wie in einem Spiegel über sich hinwegfegen sehen. In der unteren Ecke hing ein Schild mit dem Namen des Besitzers; Glen Jackson, ein Mann der nie existiert hatte. Das Glas der Eingangstür war zerbrochen.
Wulf spähte ins Dunkel des Ladens und wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung den Regen aus den Augen. Murphy erschien neben ihm, presste sich gegen die Wand des Eingangsbereiches und zielte durch das zerbrochene Fenster der Tür ins Innere.
»Demi?«, flüsterte Wulf. Langsam begannen sich seine Augen an das bleierne Licht im Innern zu gewöhnen. Er erkannte die Schatten einiger Regale und einen Tresen im Eingangsbereich mit einer altmodischen Registrierkasse. ›Alles genau wie in Kagan´s Creek‹, dachte er. Vor einem ausladenden Tisch vor dem Schaufenster stand eine Gestalt.
»Demi? Demi, verdammt, was tust du hier?«
Wulf spürte, wie sich die eisernen Klauen einer namenlosen Furcht von seinem Herzen zu lösen begannen. Die Gestalt bewegte sich nicht. Wulf blickte sich hastig im Ladenbereich um. Durch die verdreckten Scheiben fiel kaum Licht, so dass die Regale wie uralte Schränke in einer Abstellkammer wirkten.
Als er in den Laden trat, knirschten Glassplitter unter seinen Stiefeln. Er verharrte, blickte zu der schemenhaften Gestalt. Plötzlich stiegen die Bilder vom Vortag in seiner Erinnerung auf. Der alte Mann auf der Veranda, der in einem anderen Leben einmal Murphys bester Freund gewesen war. Er verfluchte seine Fahrlässigkeit, die ihn dazu getrieben hatte, das Haus ohne Bewaffnung zu betreten. Er wusste nicht,
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