Graues Land (German Edition)
Lippen zu führen. Ihr Mund bewegt sich, als würde sie noch immer die Banane zerkauen, während mich ihre Augen unentwegt anstarren. Auf groteske Weise werde ich an den stumpfen Blick von Cindy erinnert. Wenn ich mich etwas zur Seite beuge, starrt Sarah mit leerem Blick an mir vorbei zur Decke. Sie folgt meiner Bewegung nicht.
Den Tee muss ich ihr stets behutsam geben, denn selbst das Schlucken von Getränken fällt ihr zunehmend schwerer. Für mich ist dieses Ritual eine Messlatte ihres Zustandes. Und wenn ich an diesem Abend dabei zusehe, wie der Tee immer wieder aus ihrem Mundwinkel auf ihr Nachthemd tropft und sich dort schon bald ein hässlicher, brauner Fleck gebildet hat, weiß ich, dass es ihr genauso schlecht geht, wie ich mich fühle.
Werden die Erinnerungen grau, stirbt der Mensch ...
Nachdem ich Sarah wieder behutsam auf ihr Kissen habe sinken lassen, nehme ich die beiden Scheiben Brot und esse endlich selbst etwas. Mit jedem Bissen in die harte und ausgetrocknete Rinde spüre ich, wie sehr der Hunger der letzten Tage an mir nagt. Nicht mehr lange und die letzten Reste der Speisekammer werden aufgebraucht sein. Es muss mir gelingen, in nächster Zeit etwas zu Essen aufzutreiben. Doch mit diesem Gedanken geht einträchtig das Bild von Cindy einher, wie sie in den Garten hinausgeht, um Äpfel für ihre Familie zu holen.
Lebensmittel zu besorgen kann den sicheren Tod bedeuten.
Der Gedanke schafft es nicht, bis in meinen Verstand vorzudringen.
Ich ziehe Sarah für die Nacht um, wasche ihr Gesicht und kämme ihr strähniges Haar. Dann sehe ich ihr zu, wie sie die Augen schließt und den Kopf in die Richtung dreht, in der ich in der Nacht neben ihr liegen werde. Etwas, das sie schon immer getan hat. Und immer noch tut.
Der Gedanke daran, immer noch ein kleiner Teil ihrer Persönlichkeit zu sein, ist beruhigend. Auch wenn sie es wahrscheinlich unbewusst tut.
Einen sanften Kuss auf ihre Stirn hauchend, nehme ich die Kerze vom Nachttisch und gehe zum Tisch hinüber, auf dem immer noch Barrys DVD-Gerät steht. Ich starre den jetzt nutzlosen, schwarzen Bildschirm an und denke daran zurück, wie ich mir mit Sarah ein letztes Mal »Casablanca« angesehen hatte. Fast glaube ich, Bogarts Stimme in meinem Kopf zu hören. Doch das ist alles nur Einbildung. Das Haus bleibt stumm.
Draußen vor den Fenstern herrscht ein tiefes Schweigen über eine graue Welt.
Ich falte die Hände ineinander, als würde ich zu einem Gott beten, an den ich nicht mehr glaube. Mit leerem Blick starre ich in die Flamme der Kerze und versuche im ruhigen Schein des Feuers zu versinken. Irgendwohin. Nur weg von diesem Ort. Meine Gedanken sind leer und scheinen stillzustehen.
Was soll ich als nächstes tun?
Wie soll es weitergehen?
Danny ist tot. Er hat sich mit seinem verdammten Gewehr den Schädel weggeblasen.
Und Cindy? Cindy ist gleichsam tot. Und doch steht sie im Schlafzimmer der kleinen Hütte mitten im Raum und starrt aus blinden Augen zur Tür. Wartet darauf, dass irgendjemand den Schlüssel umdrehen wird.
Wahrscheinlich flüstert sie gerade meinen Namen. Oder vergisst sie wirklich ein Mensch zu sein? Ich frage mich, ob sie wohl bis in alle Ewigkeit dort stehen wird, denn wer sollte sich noch in das Haus der Millers verirren? Gab es denn überhaupt noch jemanden auf der Welt?
Der Gedanke ist zu gewaltig, als dass ich ihn an diesem Abend noch greifen und festhalten kann. So, wie er in meinem Kopf entstanden ist, verschwindet er auch wieder. Als hätte ich den DVD-Spieler ausgeschaltet und zurück bliebe nur der schwarze, reflektierende Bildschirm.
Irgendwann greife ich in die Tasche meiner Hose. Warum weiß ich nicht. Ob es ein Instinkt ist oder einfach nur der unbewusste Wunsch meines Körpers nach Bewegung, kann ich nicht sagen. Doch als meine Hand wieder auf der Tischplatte erscheint, hält sie das Handy aus Dannys Wohnung zwischen den Fingern. Ich selbst habe nie ein solches Gerät der Moderne besessen. In der Küche hängt das alte, schwarze Telefon, schon mit Ziffertastatur, das mich stets mit der Außenwelt verbunden hatte und für meine Begriffe völlig ausreichend gewesen war. Doch seit Beginn des Weltuntergangs – ich weiß noch immer nicht, mit welchem Wort ich den Zustand unserer neuen Welt treffender beschreiben könnte – funktioniert der Apparat ebenso wenig wie der Strom.
Ich drehe das Handy in den Fingern und betrachte das stumpfe Reflektieren der Kerzenflamme auf dem kleinen Display. Bei Barrys
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