Graues Land (German Edition)
und man seine schönsten Erinnerungen bewahrt, weiß ich, dass ich diese ganz besonderen Zeiten in einer goldenen Truhe hüte, auf deren Deckel in leuchtenden Buchstaben »Sarah« geschrieben steht.
Es fällt mir schwer, mich an diese Abende zu erinnern. Daran, wie Sarah in ihrem Sessel gesessen hat, die Beine übereinander geschlagen und das Kinn auf eine Hand gestützt, als würde sie angestrengt über etwas nachdenken. An die Art, wie sie ihr langes Haar hochgesteckt hatte, damit es sie nicht beim Tee trinken stört. Oder an den unvergleichlichen Ausdruck ihrer Augen, wenn ich zu ihr an den Kamin trat, dasselbe Tablett wie jetzt in Händen, und ihr mit einer galanten Verbeugung ihren Tee servierte.
Selbst das Knistern der Holzscheite in der Feuerstelle, das jede meiner Erinnerungen wie eine Symphonie begleitet hatte, kann ich nur als weit entfernte Ahnung wahrnehmen. Alles was ich deutlich sehen kann, ist dieses grässliche Ding im Schlafzimmer der Millers – und Danny, dessen Schädel an der Wand hinter ihm klebt, während Rauch aus der Mündung seines Gewehres aufsteigt und sich mit den spritzenden Blutfontänen aus seinem Halsstumpf vermischt.
Fast erscheint es mir, als verliere der Schatz, den ich stets gehegt und gepflegt habe, seinen Glanz. So, wie die Tage dieser neuen Welt. Meine wertvollsten Erinnerungen verblassen und werden grau. Gerade so, als würden sie zu Staub zerfallen.
Als ich die Augen wieder öffne, lassen Tränen meine Sicht verschwimmen. Ich fühle mich so alleine, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Danny ist nicht mehr da. Und Cindy scheint sich in einen wandelnden Leichnam verwandelt zu haben.
Und Sarah ...?
Heißt es nicht, wenn die Erinnerungen an schöne Tage verblassen, stirbt der Mensch?
Der Gedanke daran, lässt mich instinktiv den Kopf schütteln. Ich blicke zur Tür und darüber hinweg zur Decke und durch sie hindurch, dorthin, wo andere Gott vermuten. Meine Tränen schmecken salzig. Ich lecke sie von den Lippen und ziehe die Nase hoch.
»Nimm mir nicht alles weg«, flüstere ich mit erstickter Stimme. »Nicht meine Erinnerungen. Und nicht Sarah.«
Lange Zeit starre ich einfach nur vor mich hin und versuche die Farben in meine Gedankengänge zurück zu zwingen. Sarahs Kleid, das sie meistens an jenen Abenden am Kamin getragen hat; die Farbe ihrer Haarspangen; die Farbe der leckenden Flammen im Kamin.
Doch alles bleibt grau. Wie die Asche, die sich über die Welt gelegt hat.
Ich stelle eine der Kerzen auf das Tablett und gehe mit gesenktem Kopf ins Schlafzimmer hinauf. Die mittlere Stufe der Treppe knarrt wie immer, doch selbst dieser vertraute Laut erscheint mir plötzlich bedeutungslos.
II
Sarah sieht mich an, während ich ihr eine Bananenscheibe nach der anderen zum Mund führe. Die Tasse Tee steht neben ihr auf dem Nachttisch und erfüllt das kleine Zimmer mit dem Duft alter Tage.
Unsere Blicke treffen sich. Ich frage mich, was sie wirklich sieht.
Erkennt sie in mir noch den Mann, mit dem sie seit über vierzig Jahren verbunden ist und dessen Liebe und Aufmerksamkeit sie sich stets sicher sein konnte? Erkennt sie noch die Farbe meiner Augen, die sie stets als »Gottes Blau« bezeichnet hatte? Oder bin ich nur ein weiterer Schatten in ihrer grauen Welt? Kann sie den Tee riechen? Sieht sie sich in Gedanken vor dem knisternden Kaminfeuer sitzen, während draußen der kalte Wind um die Ecken des Hauses pfeift?
Ich werde nie eine Antwort auf diese Fragen erhalten. Alles, was ich tun kann, ist, mir einzureden, dass sie genau dies alles tut, was ich mir so sehnlich von ihr wünsche. Dass ihre Welt nicht ihre Farben verloren und sich zu grauer Asche gewandelt hat.
Sie kaut langsam auf der Banane und verzieht ihr Gesicht wie unter Schmerzen, als sie schluckt. Dabei stößt sie jedes Mal ein leises Klagen aus.
Jeder Laut von ihr trifft mich wie ein Faustschlag in der Magengegend. Er erinnert mich an Cindys heiseres Stöhnen. Ich weiß, wie schwer es ihr fällt, eigenständige Bewegungen auszuführen. Selbst das Schlucken gestaltet sich als zunehmend schwieriger. Lediglich das Atmen, ein angeborener Instinkt des Körpers, funktioniert, ohne dass man sich Sorgen machen muss, wie mir ihr Arzt auf meine nervöse Nachfrage hin versichert hatte.
Als die Schüssel mit der Banane leer ist, stelle ich sie auf das Tablett, greife mit der linken Hand unter Sarahs Hinterkopf und hebe sie sanft in meine Richtung, um ihr mit der rechten Hand die Teetasse zu den aufgesprungenen
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