Graues Land (German Edition)
beginne, die endlos lange Nummer meines Sohnes auf der kleinen Tastatur einzutippen, erscheinen die Ziffern eine nach der anderen im Display. Gleichzeitig spüre ich, wie der Hammer meines Herzens meine zitternde Brust zu zerbersten droht. Ein bitteres Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich daran denke, dass mein altes Herz die plötzliche Aufregung vielleicht nicht überstehen würde.
Als ich die fertig eingetippte Telefonnummer vor Augen sehe, betrachte ich die Zahlenfolge mit einer seltsamen Ergriffenheit, die mir meine Kehle zuschnürt. Plötzlich halte ich kein Telefon in Händen, sondern Barry selbst. Mein Sohn ist mir mit einem Schlag so nah wie noch nie zuvor. Selbst bei seinen Besuchen in den Hügeln, war mir Barry nie so präsent vorgekommen, wie in diesem Moment, in dem ich seine Nummer in dem blau leuchtenden Display betrachte.
Dann verschwinden die Ziffern plötzlich. Das Blau des Bildschirms wird erst grau und dann zu einem leblosen Schwarz. Entsetzt beginne ich auf den Tasten des Handys herumzudrücken, bis das Display erneut aufleuchtet. Doch Barry ist verschwunden. Scheinbar hat die moderne Technik nicht so viel Zeit, als dass man sich seinen Emotionen hingeben kann.
Ich tippe die Nummer erneut ein und erfreue mich an jeder vertrauten Ziffer, die auf dem Bildschirm erscheint. Dann drücke ich ohne Umschweife auf das kleine grüne Symbol des Telefonhörers, auf welches Barry immer gedrückt hat, wenn er eines seiner wichtigen Telefonate mit dem Krankenhaus führen musste. Ich sehe zu, wie eine Ziffer nach der anderen kurz aufleuchtet und danach eine Folge von blinkenden Punkten erscheint.
Zögernd halte ich das Handy ans Ohr, während ich in Gedanken bereits Worte formuliere, mit denen ich Barry zu begrüßen gedenke. Was sollte ich zu ihm angesichts dieser fürchterlichen Situation sagen? War eine normale Unterhaltung, wie etwa zum Geburtstag oder zu Weihnachten, überhaupt möglich?
Ich spiele mit den absurden Gedanken, Sarah zu wecken, während ich darauf warte, den lange ersehnten Klingelton zu hören. Vielleicht würde es ihr gut tun, Barrys Stimme zu hören. Immerhin hatte Sarah unseren Sohn über alle Maßen geliebt und tagelang geheult, als er uns eines Tages eröffnete, dass er sich eine eigene Wohnung nehmen wolle, da er die räumliche Trennung von seiner späteren Frau Shelley nicht mehr verkraften würde.
Mein Blick fällt auf die sich sanft hebende Brust von Sarah. Nein, ich würde sie schlafen lassen und ihr morgen davon berichten, über was ich mit Barry geredet habe.
Ich starre in die Flamme der Kerze. Noch immer kann ich kein Klingelzeichen hören. Meine Finger beginnen miteinander zu spielen. Mein Zeigefinger fährt nervös über den Daumen. Wie lange benötigte ein Handy für eine Verbindung? Länger als mein altmodischer Apparat in der Küche? Ich erinnere mich, dass Barry bereits nach wenigen Sekunden seinen Chef oder eine der Schwestern aus dem Hospital erreicht hatte.
Das Hämmern meines Herzens erfüllt mich plötzlich mit Eiseskälte. Als würde mit jedem hektischen Schlag kaltes Wasser durch meine Adern gepumpt. Ich nehme das Telefon in die Hand und betrachte das Display. Der Bildschirm ist schwarz. Mit fahrigen Bewegungen drücke ich mehrere Tasten gleichzeitig. Nichts geschieht.
Während ich das Handy zu schütteln beginne, füllen sich meine Augen mit Tränen. Immer wieder halte ich in meinen unkontrollierten Bewegungen inne und starre ungläubig auf den schwarzen Bildschirm. Mit heiserem Stöhnen beginne ich das Telefon auf die Tischplatte zu schlagen. Durch den Luftzug flackert die Kerze und die Schatten an den Wänden beginnen ihren grotesken Tanz. Sehe ich da nicht spöttische Fratzen, die mich verhöhnen?
Sarah rührt sich mit einem tiefen Seufzer unter ihrer Decke.
Als ich auf das Display starre, kann ich im dunklen Bildschirm das verkleinerte Spiegelbild meines entsetzten Gesichtes erkennen. Tränen rinnen über die Wangen des alten Mannes, der mich anstarrt, und glänzen sanft im Kerzenlicht. Wieder fahre ich mit den Fingern über die Tasten. Ich drücke das grüne Telefonsymbol, doch das Handy bleibt tot. Wie der Rest der Welt.
Die Ziffern sind verschwunden. Die sonnengefluteten Berge sind verschwunden. Barry ist verschwunden ...
Das Handy beginnt vor meinen Augen zu verschwimmen. Die Ränder meines Blickfeldes versinken in grauem Nebel und bringen mir eine Einsamkeit nahe, die mich in grabesgleiche Furcht taucht. Selbst Sarahs Nähe, die in
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