Graues Land (German Edition)
dass wir womöglich die einzigen Überlebenden in Boston waren, vielleicht sogar in ganz Massachusetts. Denn außer am zweiten Tag der Katastrophe, an dem wir alle im Krankenhaus angekommen waren, war kein weiterer Überlebender zu uns gestoßen. Und ein jeder von uns, auch Demi, ging erstaunlich gelassen mit dieser Tatsache um. Ich frage mich bis heute, wie wir das damals geschafft haben. Aber keiner von uns ist durchgedreht. Vielleicht haben auch unser Zusammensitzen und die Gespräche am Abend ihren Anteil dazu beigetragen. Denn wenn die täglichen Arbeiten des Ver- barrikadierens beendet waren, hatten wir uns in der Lobby des Krankenhauses zusammengefunden, uns auf die schweren Ledersessel gesetzt, die früher einmal für Besucher und wartende Patienten reserviert gewesen waren, und ein jeder von uns hat aus seinem früheren Leben berichtet. Wir haben über alte Freunde geredet und über die verloren gegangene Familie, wobei uns Jerry, Becky und Mark sichtlich mit Neid bedachten, denn wir hatten unsere Familie ja nicht verloren.«
Barry hält kurz inne und streift mich mit schuldbewusstem Blick.
»Auf jeden Fall mussten wir versuchen, eine gewisse Ordnung in unsere kleine Gemeinschaft zu bringen. Aus irgendeinem Grund wurde ich, ohne irgendwelche Abstimmung, zum Anführer der Gruppe. Vielleicht weil ich der Älteste war oder weil die anderen glaubten, als Hubschrauberpilot und Sanitäter würde ich über den Fähigkeiten eines Assistenzarztes, wie Mark es gewesen war, stehen. Ich weiß es nicht. Aber ich habe unsere stumme Wahl ebenso wortlos akzeptiert und alsbald jedem eine Rolle zugewiesen. Becky und Shelley sollten sich um Demi kümmern und zusätzlich um das Essen und die Vorräte. Jerry und Mark wurden zur Sicherung unseres Standortes abgestellt. Das bedeutete, dass sie jeden Morgen den Zustand der Bretter vor Fenster und Türen sowie des Zaunes rund um das Gelände überprüfen mussten, denn in jeder Nacht konnte man diese widerlichen Kreaturen um das Krankenhaus schleichen sehen und gegen den Drahtzaun schlagen hören. Sie schienen zu wissen, dass wir uns in dem Gebäude verbarrikadiert hatten. Vielleicht rochen sie uns, keine Ahnung. Aber Jerry und Mark hatten jeden Morgen alle Hände voll zu tun. Diese Wesen versuchten in jeder Nacht den Zaun einzureißen oder gruben ihre Klauen in die Bretter vor den Türen und Fenstern.«
Ich hebe meine Hand, wie man es früher in der Schule getan hat, wenn man die richtige Antwort auf eine Frage wusste. Nur dass ich diesmal die Frage habe und von meinem Sohn eine Antwort erwarte.
»Diese Kreaturen«, beginne ich, nachdem Barry seinen Bericht unterbrochen hat und mich fragend anblickt. »Diese Monstren gibt es auch hier in den Hügeln. Ich nenne sie Shoggothen .«
Unsere Blicke treffen sich, doch Barry macht keinerlei Anstalten zu fragen, wieso sein alter Vater diesen Geschöpfen einen Namen gegeben hat.
Ich wüsste auch nicht, was ich ihm hätte antworten sollen. Dass sein Vater alt und senil ist? Oder einfach nur eine nie gekannte Furcht vor diesen unheimlichen Geschöpfen hegt und versucht diese unter Kontrolle zu bekommen, indem er seiner Angst einen Namen gibt? Wenn auch einen Namen, der nichts mit den ursprünglichen in der Literatur von Lovecraft erschaffenen Shoggothen gemein hat?
Doch in Barrys Antlitz überwiegt weniger Überraschung ob der Worte seines Vaters als eine tiefe Müdigkeit.
»Was hat es mit diesen Wesen auf sich?«
Barry schüttelt den Kopf.
»Lass mich erst von Boston erzählen, Dad. Vielleicht können wir uns danach über diese Ungeheuer unterhalten, wenn du gehört hast, zu was sie fähig sind.« Er senkt den Blick, und seine Stimme wird zu einem Flüstern. »Ich möchte dir auch erzählen, was mit Shelley geschehen ist.«
Ich erkenne die Verbindung, die sich mit diesen Worten und mit Barrys Blick zwischen ihm und seiner Tochter aufbaut, auch wenn das Mädchen immer noch tief und fest schläft.
Barry braucht es, über die Geschehnisse in Boston berichten zu können. Er muss seine Erlebnisse in Worte kleiden, ähnlich wie ich die Kreaturen in den Wäldern mit einem Namen bedacht habe, um sie begreifen zu können. Es war seine Art, mit den schrecklichen Erinnerungen der letzten Tage zurechtzukommen, und den Wahnsinn in seinem Innern nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Und vielleicht tut es auch mir gut, den Schrecken der letzten Tage in Worte gekleidet zu hören, anstatt immer nur als stumme Gedanken in meinem Kopf. Deshalb nicke
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