Graues Land (German Edition)
miteinander zu ringen beginnen. Der lächelnde Junge, der mir gerade noch Beckys und Jerrys Geheimnis offenbart hatte, ist verschwunden und hat einen Menschen zurückgelassen, der binnen Sekunden um Jahre gealtert scheint. Demi dreht sich auf seinem Oberschenkel murmelnd auf die andere Seite, so dass ich ihr Gesicht nicht mehr sehen kann.
»Eine Überlebende?«, frage ich, lediglich um die erdrückende Stille zu unterbrechen, die Barrys Erzählung wie ein Schwall eiskalter Luft gefolgt war.
»Eine Überlebende ...«
Er scheint über meine Frage nachzudenken, streicht Demi durch das Haar und betrachtet scheinbar fasziniert die Wand hinter mir. Im Schein der Kerzen glühen seine Augen wie pechschwarze Kohlestücke in seinem dunklen Gesicht.
»Keine Überlebende«, sagt er schließlich mit einem leisen Flüstern. Er holt tief Luft, schüttelt den Kopf und schließt seine Augen.
»Ich fand Alicia am siebten Tag. Sie stand in einer Buchhandlung, als ich für alle einige Bücher besorgen wollte. Denn die langen Tage und die noch längeren Nächte im Krankenhaus konnten einen Menschen um den Verstand bringen, wenn dieser nicht beschäftigt wurde. Alicia stand einfach in der Nähe der Kasse und hatte mir einen Riesenschrecken eingejagt. Fast hätte ich sie erschossen, was mir bewiesen hatte, wie angespannt meine Nerven auf meinen Erkundungsflügen in Wirklichkeit doch gewesen waren. Doch das Mädchen zuckte nicht einmal zusammen, als sie mich sah; geschweige denn, als ich meine Waffe auf sie gerichtet hatte. Sie war ein junges Ding, kaum älter als Demi. Und sie sah fürchterlich aus. Sie war keines dieser Wesen, die wir in der Nacht vor der Umzäunung des Hospitals sehen konnten und die uns mit ihrem Heulen und Jaulen den Schlaf raubten. Doch sie war auch ... irgendwie ... kein Mensch mehr.«
Barry sieht mich an als erwarte er, dass ich ihn für verrückt erklären würde. Vielleicht hätte ich das in diesem Augenblick auch getan, wäre mir nicht Cindy Millers fürchter- liche Erscheinung in den Sinn gekommen.
»Ihr Aussehen war das eines Mädchens, das seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Ihre Wangen waren eingefallen und die blasse Haut spannte sich wie hauchdünnes Papier um ihre Knochen. Selbst ihre Haare waren lediglich noch graue Strähnen, die ihr wie Spinnweben ins Gesicht hingen. Und ihre Augen ...« Barry schaut auf seine Hände als stünde dort die Antwort auf alles geschrieben. »Ihre Augen ... sie waren das Schrecklichste an ihr. Da war nichts Menschliches mehr in diesen Augen. Nichts ... Lebendiges. Ich hatte den Eindruck in die Augen eines Blinden zu sehen. Als hätte jemand dem Mädchen graue Steine in die Höhlen gedrückt. Und trotzdem habe ich ihren Blick auf mir gespürt. Sie ist jeder meiner Bewegungen gefolgt, als ich sie langsam mit der Waffe umkreist habe. Und dann hat sie gesprochen. Ganz leise. Mit einer Stimme, die tot war. Kannst du dir das vorstellen, Dad? Ihre Worte kamen von irgendwo aus diesem toten, welken Körper.«
Ich kann es mir sehr gut vorstellen.
»Sie sagte mir, ihr Name sei Alicia und ich solle ihr helfen. Sie flehte mich an, sie zu erschießen. Dabei hat sie ihre dürren Arme nach mir ausgestreckt. Und überall auf ihrer Haut waren diese braunen Flecken. Als würde ihr jederzeit die Haut vom Arm abfallen.«
Barry betrachtet weiterhin seine Hände, hält sie vors Gesicht und verbirgt seine Augen dahinter. Demi fängt erneut zu murmeln an. Diesmal kann ich das Wort `Mama´ verstehen, was mir die Kehle enger zuschnürt.
»Ich habe Alicia mitgenommen. Wie sich herausstellen sollte, ein tödlicher Fehler. Im Krankenhaus haben wir versucht das Mädchen mit Medikamenten zu heilen. Wir haben ihr Antibiotika gegeben und Aufbaupräparate. Doch an ihrem Zustand änderte sich nichts. Sie sprach kaum ein Wort und war lethargisch. Oft stand sie einfach nur da, wie ein wandelnder Leichnam, und starrte mit ihren kalten Steinaugen ins Leere. Das wenige, das sie sprach, ließ allerdings unser Blut gefrieren. Alicia sagte, sie sei in der Nacht von einer Kreatur gebissen worden, die in den Keller der Bücherei, ihrem Versteck, eingedrungen war. Dies sei nur zwei Tage vor meinem Auftauchen geschehen. Und seitdem hätte sie Veränderungen in ihrem Körper gespürt. Das Geschöpf hätte ihr durch den Biss etwas eingeflößt, das sie nach und nach zu einem dieser Wesen mutieren ließe. Wir fanden tatsächlich tiefe Bisswunden in ihrem Nacken. Aber Glauben haben wir ihren Worten damals nicht
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