Graues Land (German Edition)
und das Grunzen des Mädchens. Doch das alles wurde von einer unheimlichen Ruhe überlagert, die mich plötzlich überkam und meinen Körper in einen Behälter aus purem Eis verwandelte. Vielleicht war es der penetrante Geruch von meinem eigenen Erbrochenen, der die Kanzel erfüllte. Vielleicht auch der zuckende und heulende Körper meiner kleinen Tochter in meinem Arm, der mir diese plötzliche Stille in meinen Gedanken schenkte. Ich weiß es heute nicht mehr. Vielleicht war es beides. Ich war auf jeden Fall in diesem Moment beidem dankbar, dass sie meinen Verstand nicht in dem Strudel aus Tod, Blut und Alptraum versinken ließen. Mit wenigen, geübten Handgriffen bekam ich den Helikopter zum Laufen und hob vom Dach des Kranken- hauses ab, noch ehe der Rotor richtig warm gelaufen war. Wir warfen beide keinen Blick zurück. Ich starrte geradeaus in einen grauen Morgenhimmel hinein und versuchte all die scheußlichen und unmenschlichen Bilder der vergangenen Minuten auszublenden, während Demi in meinem Arm heulte und zuckte als hätte sie die Prügel ihres Lebens bekommen. Sie klammerte sich an mich, so fest, dass ich später Kratzwunden und blaue Flecken an meinem Arm und der Schulter fand. Aber sie sprach kein Wort. Wir redeten beide nicht, sondern flogen zum Militärstützpunkt um unsere Maschine aufzutanken. Und danach kamen wir im Nonstopflug hierher.«
Barry fällt in sich zusammen, als hätte ihm jemand genau in diesem Moment den Strom abgeschaltet. Er wirkt leer und ausgezehrt; viel älter, als ich es jemals sein würde.
Als er weiterspricht, verstehe ich sein Flüstern kaum noch.
»Weißt du, Dad ...« Er nimmt sein Glas und leert den Rest in wenigen Schlucken. »Ich habe dir erzählt, wie besonnen unsere Gruppe im Hospital mit dieser neuen Situation umgegangen ist. Wie schnell wir uns alle an die veränderten Verhältnisse in unserem Leben gewöhnt hatten. Das Ganze hatte mich in den ersten Tagen wirklich erstaunt und auch ein wenig stolz auf diese Menschen gemacht. Aber dieser eine Morgen ... diese wenigen Minuten, in denen die letzten Überreste unserer Zivilisation in einem Blutregen untergegangen waren, die haben mir auf eindrucksvolle und zerstörerische Weise vor Augen geführt, wo wir Menschen wirklich in dieser neuen Welt stehen.«
Barry betrachtet sein Glas. Für einen kurzen Augenblick habe ich die Befürchtung, er würde all seine Verzweiflung in dieses Glas hineinlegen und es gegen die Wand schmettern. Vielleicht hätte das uns beiden gut getan.
»Wir haben in dieser Welt keine Chance mehr, Dad. Boston war eine Millionenstadt. Und wir waren nur sechs Überlebende gewesen. Sieben, wenn ich Alicia dazu zähle. Sechs aus mehreren Millionen.«
Er sieht mich an. Tränen glitzern in seinen Augen und fangen den Kerzenschein auf.
»Sag mir, wo stehen da unsere Chancen?«
Unsere Blicke halten sich fest. So, wie Barry seine Tochter in der Kanzel des Hubschraubers festgehalten hatte. Keiner will den anderen loslassen.
Ich senke den Blick und betrachte Demi. Ihre kleine Schulter zuckt ab und zu, als würde sie weinen. Vielleicht tut sie das auch in ihren Träumen. In ihren Gedanken wird es nichts anderes mehr als Tränen und Furcht geben. Sie sah ihre Mutter sterben und lebt in einer Welt, die leer und schwarz geworden ist. Kein Lachen mehr. Kein Spielen mit Freunden. Keine Jungs. Keine Abschlussbälle. Einfach nur noch finstere Träume, Tränen und Schmerz. Alles, was sie noch besitzt, befindet sich in diesem kleinen, stickigen und dunklen Zimmer, dessen Luft vom Geruch nach Kerzen erfüllt ist, und dessen Fenster mit dicken Brettern vernagelt sind, um diese neue Welt ihrer Alpträume nicht zu ihr hereinzulassen.
»Unsere Chancen bestehen darin, zu akzeptieren, was geschehen ist«, flüstere ich, ohne meinen Blick von Demi abzuwenden. Noch während ich spreche, bemerke ich die Leere meiner Worte. »Deine Gruppe in Boston hatte es auch geschafft, sich an die neue Zeit zu gewöhnen. Warum sollten wir hier diese Chance nicht haben? Wir leben. Und ich denke, das ist im Moment alles, was uns interessieren sollte. Alles andere – das Wie und Warum – werden wir neu erlernen müssen, so wie es die Menschheit immer getan hat. Im Mittelalter wütete die Pest. Kriege haben die Menschheit in ganzen Ländern ausgelöscht. Und trotzdem ging es immer irgendwie weiter.«
»Du vergleichst die Apokalypse mit einer Epidemie?«
Barry sieht mich an, als würde er sich jeden Augenblick auf mich stürzen wollen.
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