Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
Nachmittags zu Wandertouren aufgebrochen waren, um
entweder ins Tal zu steigen oder zur Landsberger Hütte rüberzugehen, hatte sie
keinem von ihnen übel genommen. Sie alle brauchten Ablenkung, vor allem aber
innere Einkehr. Sie genoss deshalb diese abendliche Stille, von der sie umgeben
war. Im Holzofen knisterte das Feuer, die Öllampe verbreitete ein diffuses
Licht, das überallhin tanzende Schatten projizierte – so,
als sei der Raum voll geheimnisvollen Lebens. Josefina war um halb elf noch
kurz vor der Hütte gewesen, um in der Kühle der Nacht den funkelnden Zauber der
Sterne in sich aufzunehmen, diese Botschaften, die das Universum aus unendlich
weiter Ferne und damit aus der Vergangenheit zur Erde sandte. Sie bedauerte es,
keines der Herz-Jesu-Feuer von hier aus sehen zu können.
Zurückgekehrt
in die behagliche Wärme der Hütte, hatte sie die Tür verriegelt, die
Fensterläden von innen zugeklappt und sich einen Tee aufgebrüht, dessen Aroma
sich jetzt mit dem Duft des brennenden Holzes vermischte.
Diese
wenigen Tage der Einsamkeit, ohne ihren Mann, ohne die Zwänge, die ihr die
Landwirtschaft aufbürdete, waren Balsam für ihre Seele. Dies empfand sie nicht
einmal bei den sonntäglichen Gottesdienstbesuchen so intensiv wie in diesem
Augenblick. Hier oben fühlte sie sich dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst.
Und das Fehlen jeglichen Geräusches erschien ihr wie die sakrale Stille eines
Kirchenraumes.
Während
sie Tee trank, ging ihr Blick zum Kruzifix, das sich im schwachen Lampenlicht
nur schemenhaft aus der Dunkelheit hervorhob. Weil es schräg in der Zimmerecke
abgehängt war, warf es einen unruhigen Schatten zur Decke hinauf. Im Knistern
und Knacken des Feuers hatte Josefina den Eindruck, dem leidenden Herrgott an
seinem Kreuz ganz nahe zu sein.
Ein
paar Atemzüge später griff sie hinter sich zu einem Schränkchen, auf dem ein
dickes Buch an die Wand gelehnt war. Sie legte es vor sich auf den Tisch, nahm
anschließend die Öllampe vom Deckenhaken, um ihr Licht direkt vor sich zu
haben. Dann schlug sie die vielen Hundert Seiten des dicken Buches so weit auf,
bis nur noch wenige Blätter auf der rechten Seite verblieben. Sie setzte ihre
Lesebrille auf, die sie aus einem Etui genommen hatte, und befeuchtete sich
Daumen und Zeigefinger, um einige der Seiten weiterblättern zu können, bis am
oberen Rand das Wort ›Offenbarung‹ auftauchte.
Genau
damit, so war beim letzten Treffen im Oktober beschlossen worden, hätten sie
sich in den nächsten Tagen auseinandersetzen wollen. Besonders gespannt war sie
auf die Worte des Theologen Christoph Falkenstein gewesen. Denn wenn es
tatsächlich zu dem kommen würde, was die Verschwörungstheoretiker aus dem Ende
des Maya-Kalenders folgerten, dann musste es auf den letzten Seiten der Bibel
Hinweise dafür geben.
Doch
wann immer in der Kirche die Sprache auf die Offenbarung kam, hatte Josefina
den Eindruck gehabt, dass die Theologen dieses Thema mieden – so
tief religiös sie auch waren. Sie konnte sich ohnehin des Gefühls nicht
erwehren, dass nur ein Teil des klein und eng gedruckten Inhalts der Bibel dem
Laien wirklich nahegebracht werden sollte. Immerhin wimmelte es im Alten
Testament geradezu von blutrünstigen, gewalttätigen Szenen, von Mord und
Totschlag, Machtkämpfen und Intrigen.
Natürlich,
das wusste sie, war das Alte Testament weitgehend ein Geschichtsbuch, dessen
einzelne Episoden erst Jahrhunderte später niedergeschrieben worden waren,
nachdem man dies alles über Generationen hinweg nur mündlich überliefert hatte.
Wenn
Josefina darüber nachdachte, versuchte sie, sich diese Art von
Geschichtsschreibung vorzustellen. Das wäre, wie wenn ein Ereignis aus der
Jetztzeit über Hunderte von Jahren hinweg nur mündlich weitererzählt werden
würde, bis es endlich jemand niederschreiben könnte. Wie sollten da noch
wörtliche Zitate und Details wahrheitsgetreu wiedergegeben werden?
Josefina
kämpfte gegen solche Zweifel an und tröstete sich damit, dass beim Neuen
Testament, also den Ereignissen ab Jesu Geburt, die Protokollierungen etwas
zeitnaher erfolgt waren – nur im Abstand einiger Jahrzehnte. Was dann freilich wiederum
Hunderte Jahre später in der Bibel zusammengefasst wurde, war auch nur eine
Auswahl dieser vielen Dokumente, erinnerte sich Josefina an die Erklärungen,
die Falkenstein beim letzten Treffen gegeben hatte.
Neben
den Aufzeichnungen der vier sogenannten Evangelisten, die in ihren Berichten
unterschiedliche
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