Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
Eingang
vom Campingplatz abgeholt. Ist das wichtig?«
Grantner
sagte nichts.
78
Aleen Dobler-Maifeld liebte es,
allein in den Bergen unterwegs zu sein. Obwohl die Nacht kurz gewesen war,
hatte sie sich am frühen Morgen nach einem kurzen Hotel-Frühstück auf den Weg
gemacht. Sie war mit ihrem Auto von Tannheim aus zur gegenüberliegenden
Talseite gefahren, wo sich abseits des Nachbarorts Grän die Seilbahn zum
Füssener Jöchle befand. Vor ihr lag ein langer, schweißtreibender Aufstieg,
denn die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel in den Steilhang hinein.
Nach zweieinhalb Stunden hatte sie endlich die Bergstation und das dortige
Gasthaus erreicht. Seit Betriebsbeginn der Umlaufbahn wurden zuhauf Touristen
in die Höhe gekarrt. Ein Blick auf deren leichtes Schuhwerk oder die luftige
Kleidung genügte, um zu erahnen, dass sie keine größeren Touren in Angriff
nehmen wollten.
Aleen
konnte sich den ganzen Tag über nicht auf die Schönheiten dieser reizvollen
Landschaft konzentrieren. Sie wollte einfach weg, raus aus der Enge dieses
Tales, hinauf zu den Berggipfeln, wo sie sich frei fühlte, dem Himmel nahe – und
den Vögeln, denen sie es gern gleichgetan hätte: einfach abheben und
unbeschwert segeln, über alle Mauern und Grenzen hinweg. Vorausgesetzt, sie
brachen sich keinen Flügel.
Aleen
fühlte sich an diesem Montag aber, als habe man ihr die Flügel gebrochen.
Sie
hatte von dem schmalen Berggrat des Füssener Jöchles weit hinaus ins
Alpenvorland geblickt – zu den Wasserflächen bei Füssen und weiter zum dunstig-blauen
Horizont, wo sich irgendwo in der Ferne die Schwäbische Alb befinden musste.
Wie in Trance hatte sie dies alles nur wahrgenommen,
hatte ihren Weg fortgesetzt, sich immer mal wieder ausgiebig auf einem Stein
ausgeruht und die Wasserflasche aus dem Rucksack geholt, um ihren Durst zu
stillen. Wenn sie die Augen schloss, kamen ihr all die Bilder der vergangenen
Tage in Erinnerung. Die Toten, die Kriminalpolizei, die tausend Fragen. Selbst
wenn sie auf einem großen Stein hätte schlafen wollen, es wäre ihr nicht
gelungen. In ihrem Kopf drehte sich ein wildes Karussell, das nicht mehr zu
stoppen war.
Sie hatte sich entschieden, sich von allen Zwängen zu
befreien. Von dem Job, der sie auffraß. Von dem Sklaventum in den Betrieben.
Mochte es das Burn-out-Syndrom sein – oder was auch sonst – , jedenfalls fühlte sie sich all dem nicht mehr
gewachsen.
Längst war ihr klar geworden, dass die materielle Welt
unablässig an der feingeistigen nagte. Wer seinen sensiblen Gefühlen genügend
Raum verschaffte, sie entfalten ließ und in sich hinein hörte, bekam
Botschaften übermittelt, die all die Verrückten in ihren hektischen
Produktionsbetrieben oder Verwaltungsbüros nicht mehr wahrzunehmen vermochten.
Es waren Botschaften und Signale, manchmal auch nur kleine Zeichen oder
seltsame Zufälle, die nur richtig gedeutet werden mussten, um daraus wunderbare
Schlüsse zu ziehen.
Doch während sie sich im Lauf des Tages tief in solche
Gedanken sinken ließ, brachen wieder die Bilder über sie herein, die wie ein
gigantischer Albtraum alles niederwalzten.
Dann war sie aufgestanden und einfach weitergegangen – wie ein Roboter, dem man die Strecke programmiert
hatte. Als ob’s eine Flucht wäre, die an kein Ziel führte, sondern in einen
Kreis mündete.
Aleen
durchwanderte eine tiefe Senke, um auf der gegenüberliegenden Seite wieder
aufzusteigen. Es schien ihr, als werde ihr in diesem Moment ihr eigenes Leben
vor Augen geführt: tief runter – aber drüben wieder rauf.
Doch
ihre innere Stimme warnte: Es wird nicht wieder rauf gehen. Nie mehr. Du kannst
da drüben zwar den Berg erklimmen, aber deine Seele wird unten bleiben und von
immer mehr Geröllmassen verschüttet. Aleen sah das Ziel vor sich – majestätisch, charakteristisch, wunderschön. So ragte der Aggenstein in den
blauen Himmel. Rund 50 Höhenmeter unterm Gipfel schien die Bad Kissinger Hütte
mit ihrer Terrasse am luftigen Steilhang zu kleben, federleicht, geradezu
verspielt und mit einer fröhlichen Beschwingtheit. Von Osten her war sie über
einen breiten Bergsattel bequem zu erreichen.
Aleen
hatte am Nachmittag dieses Etappenziel ihrer Wanderung gerade erreicht, als im
Rucksack ihr Smartphone anschlug. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie
sich überhaupt melden sollte. Dann jedoch entledigte sie sich des Rucksacks,
öffnete den Reißverschluss einer Außentasche und griff nach dem Gerät. Auf
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