Grave Mercy Die Novizin des Todes
zwischen uns angespannt. Wir vermeiden es, einander anzusehen, als wir uns verabschieden und aus dem Innenhof galoppieren. Die Sonne geht auf, und der frühmorgendliche Nebel steigt in weichen Schwaden vom Boden auf, wie Dampf aus einem siedenden Topf. Unser verlegenes Schweigen steht auf der Straße nach Guérande weiterhin zwischen uns. Nocturne gefällt es nicht, dass ich mich so steifhalte, und sie wiehert. Ich zwinge mich, die Schultern zu entspannen.
Duval seinerseits tut so, als existiere ich nicht. Zumindest bis La Baule. Dann dreht er sich im Sattel um, das Gesicht verkrampft vor Unbehagen. »Es tut mir leid, dass ich Euch gestern Nacht gekränkt habe. Ich war wütend aufMadame Hivern, und Ihr wart eine leichte Zielscheibe. Bitte nehmt meine Entschuldigung an.« Dann dreht er sich wieder nach vorn, und ich kann nur seinen Rücken anstarren.
Es hat sich noch nie jemand bei mir entschuldigt. Weder meine Familie noch die Nonnen. Es beunruhigt mich, diese Entschuldigung wirkt, als spielten meine Gefühle eine Rolle, obwohl ich weiß, dass sie das nicht tun. Was zählt, ist das, was Mortain und das Kloster wollen. Trotzdem kann ich nicht umhin zu flüstern: »Ich nehme Eure Entschuldigung an«, wobei die Worte mehr oder weniger mir selbst gelten. Oder zumindest denke ich das – bis ich Duval einmal nicken sehe, bevor er dem Pferd wieder die Sporen gibt.
S echzehn
OBWOHL ICH NUR EINE Tagesreise entfernt aufgewachsen bin, war ich noch nie in Guérande. Mein Vater ist dort gewesen, viele Male, und er hat jeden einzelnen dieser Besuche benutzt, um mich damit neidisch zu machen, was er alles gesehen hatte. Ich hatte gedacht, er habe die Dinge aufgebauscht, um mir unter die Nase zu reiben, was ich verpasst hatte. Jetzt sehe ich, dass er nicht übertrieben hat.
Die Stadt ist ganz von dicken Steinmauern umgeben. Acht Wachtürme ragen in regelmäßigen Abständen auf. Ich verstehe jetzt, warum die Herzogin diese Stadt als ihr Hauptquartier erwählt hat. Gewiss sind diese Mauern uneinnehmbar.
Vorausgesetzt, der Feind kommt von außen.
Als wir uns der Stadt nähern, sehe ich in der Nähe des Torturms eine Menschenmenge. Ungezählte Dienstboten und Karren, auf denen sich Haushaltswaren hoch auftürmen, blockieren die Straße. Ritter und Edelmänner sitzen auf ihren Pferden, die wegen der Verzögerung ungeduldig tänzeln. Duval murmelt einen Fluch. »Wenn das so weitergeht, werde ich den Palast nicht vor Mitternacht erreichen.«
»Sind das Flüchtlinge?«, frage ich und denke an die verzweifelten Familien und Stadtbewohner, die während des Wahnsinnigen Krieges vertrieben worden waren.
Duval sieht mich schief an. »Nein. Sie sind wegen des Treffens der Staatsmänner hier. Kommt, wir werden es am Nordtor versuchen.«
Bevor er sein Pferd wenden kann, erklingt hinter uns eine Trompete. Ein Standartenträger kommt näher; sein gold-blaues Banner flattert munter in der frischen Herbstluft. Ein großes Gefolge schlängelt sich hinter ihm auf der Straße; die Vorreiter und Trompeter kündigen seine Ankunft an. Menschen und Pferde tun ihr Bestes, um Platz zu machen, aber es ist eine schmale Straße, und man kann nirgendwohin.
Die Ritter verlangsamen ihr Tempo nicht. Sie galoppieren ohne Rücksicht auf Verluste in die Menge und zwingen die Menschen dazu, von der Brücke zu springen oder das Risiko einzugehen, niedergetrampelt zu werden. Ich erkenne das Banner sofort: Es ist das Banner des Grafen d ’ Albret. Er ist einer der wohlhabendsten bretonischen Edelmänner und ein Verehrer der Herzogin. Ein überaus beharrlicher, Schwester Eonette zufolge.
Der Graf wird von Wachen umringt, daher gewinne ich von dem Mann nur den Eindruck eines Menschen mit großer Leibesfülle und einem schweißnassen Pferd mit viel zu vielen Sporennarben auf den Flanken. Das genügt, um eine sofortige Abneigung gegen den Mann zu fassen. Trotzdem überrascht mich die Intensität von Duvals Reaktion – seine Augen werden dunkel und sein Blick hart, während er angewidert die Lippen verzieht. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass es jetzt zwei Menschen gibt, die wir beide von Herzen verabscheuen – Madame Hivern und Graf d ’ Albret –, und ich muss an Schwester Eonettes Maxime denken, dass der Feind unseres Feindes häufig einen guten Verbündeten abgibt.
Duval reißt den Blick von dem Grafen los und schaut auf die Straße. »Ich denke, wir können jetzt durchkommen«, sagt er, dann drückt er die Fersen in die Flanken seines Pferdes. Es
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