Graveminder
wartete darauf, dass er das Motorrad bestieg.
»Wenn man hier jemanden erschießt, ist es nicht wie in Charlies Welt, Bek. Die Leute stehen nicht wieder auf.« Byron schwang ein Bein über den Tank und setzte den Helm auf. »Wenn du das tust …«
»Wenn nicht, wird Cissy weiter Menschen verletzen. Sie hat Maylene ermordet.« Rebekkah spürte einen Zorn, wie sie ihn noch nie zuvor empfunden hatte. »Sie hat die Toten – meine Toten, Maylenes Tote – benutzt, um zu töten. Wenn wir müssen, bringen wir Cissy in Charles’ Welt. Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, versuchen wir es, aber wir sorgen dafür, dass das aufhört.«
Schweigend nahm sie auf dem Soziussitz Platz und schlang die Arme um ihn.
Die Maschine erwachte dröhnend zum Leben, und Byron sagte nichts weiter. Dieses Mal startete er nicht langsam wie bei ihrer letzten Fahrt, diesmal schaltete er sich durch die Gänge und beschleunigte innerhalb weniger Sekunden auf Höchstgeschwindigkeit.
48. Kapitel
»Aber sie hat mich die ganze Woche nicht angerufen«, erklärte Liz. »Teresa lässt nie so viel Zeit verstreichen, ohne sich zu melden oder vorbeizukommen.«
»Deine Schwester bedenkt nicht, welche Auswirkung ihre Handlungen auf andere hat, Elizabeth.« Cissy Barrow schnitt eine verblühte Rose von einem Busch ab und warf sie in einen Eimer daneben. »Sie glaubt, dass ihre Interessen wichtiger sind als ihre Pflichten.«
»Weißt du, wo sie steckt?«
»Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit«, räumte Cissy ein.
»Worüber?«
Mit der Gartenschere in der Hand machte Cissy eine wegwerfende Handbewegung. »Das Übliche. Sie denkt nur an sich. Du bist doch nicht so, oder, Elizabeth?«
Angesichts der unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit, die in der Stimme ihrer Mutter lag, zuckte Liz zusammen. Ihre Mutter war nicht herzlos, aber sie hielt nichts davon, andere zu verhätscheln. Kinder sollten gehorsam und ergeben sein. Junge Frauen sollten ihre Mutter achten. Ziellosigkeit führte zu Selbstgefälligkeit. Liz hatte die Mahnungen ihrer Mutter oft genug gehört, um zu wissen, dass ihre täuschend sanften Fragen nichts anderes als Kontrollen waren.
Liz nahm die Schultern zurück und verlieh ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang. »Nein, Mama. Ich denke zuerst an die Familie.«
Die Mutter nickte. »Braves Mädchen.«
»Kann ich denn etwas tun?«, erkundigte sich Liz vorsichtig. »Falls du weißt, wo Teresa ist, könnte ich mit ihr reden.«
»Irgendwann schon, Kind. Momentan ist sie noch nicht ganz so weit. In ein paar Wochen sicher, aber zurzeit ist sie verwirrt.« Cissy ließ den Blick über den Garten schweifen, den sie hinter Liz’ Haus geplant und angelegt hatte. Liz selbst hätte sich andere Pflanzen ausgesucht, aber manche Themen waren es wert, mit ihrer Mutter diskutiert zu werden, und über andere stritt sie besser überhaupt nicht. Die Anlage von Blumenbeeten fiel in letztere Kategorie.
»Bald habe ich alles geregelt, und ihr werdet beide eure Rollen ausfüllen.« Cissy schnitt eine weitere verblühte Rose ab.
»Unsere Rollen?« Liz spürte, wie die Furcht in ihrem Innern mit jeder Sekunde wuchs. »Welche Rollen?«
»Eine von euch wird Graveminder werden, Liz. Mir ist klar geworden, dass du es sein musst. Teresa versteht das inzwischen. Doch zuerst muss Becky verschwinden.« Cissy trat zurück, um den Rosenbusch zu bewundern. »Wenn wir Byron überzeugen können, wird er sich ganz wunderbar schlagen. Besser, sich mit vertrauten Menschen zu umgeben, statt von vorn anzufangen, oder? Als Ella gestorben war, übertrug er seine Ergebenheit von eurer Cousine auf dieses Mädchen. Er wird sich genauso leicht auf deine Seite schlagen.« Sie warf die Schere zu den Rosenblüten in den Eimer. »Ich gehe mich waschen.«
Liz stand in ihrem kleinen Garten und sah ihrer Mutter nach. Sie redet, als wäre Rebekkah schon tot, dachte sie. Wenn ich die nächste Totenwächterin werden soll, dann muss Rebekkah sterben. Ihr nagendes Entsetzen verwandelte sich in ausgewachsenes Grauen. Was war geschehen? Wo steckte Teresa?
Liz behauptete, dass sie nicht mehr an eine übersinnliche Verbindung zwischen Zwillingen glaube, doch in einer Stadt, in der Tote wiederkehrten, war der Glaube an eine Verbindung zu jemandem, den man seit dem Mutterschoß kannte, nichts Besonderes. Gerade in diesem Augenblick wollte sie nicht daran glauben. Denn wenn sie über den wahren Grund für ihre Angst nachdachte, dann musste sie sich fragen, in welchem Maß ihre Mutter
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