Graveminder
Wasser an.
»Ich bin noch nicht alt genug, um das trinken zu dürfen.«
Maylene lächelte. »Du bist mittlerweile ein wenig über diese Regeln hinausgewachsen.«
Daisha hielt inne. »Warum?«
»Das weißt du doch.« Maylene war freundlich, aber bestimmt. »Trink das! Es wird dir helfen.«
Daisha nahm das Glas und kippte den Inhalt hinunter. Es brannte nicht, wie Whisky es sonst tat. Stattdessen fühlte es sich an wie zäher Sirup, der ihren Hals bis hinunter in den Magen überzog. »Eklig.« Sie warf das Glas gegen die Wand.
Maylene schenkte ein weiteres Glas ein, das sie wie zu einem Trinkspruch hob. »Sieht aus, als hättest du mich vielleicht doch erwischt, alter Mistkerl.« Sie leerte das Glas und wandte sich an Daisha. »Lass dir von mir helfen!«
»Sie helfen mir schon.«
»Du musst mir vertrauen. Hätte ich gewusst, dass du … tot bist, hätte ich dein Grab gehütet. Aber das können wir immer noch tun. Sag mir, wo …«
»Mein Grab.« Daisha trat zurück. Die Wahrheit, die noch nicht recht Gestalt in ihr gewonnen hatte, traf sie wie ein Schlag. Mein Grab. Sie sah auf ihre Hände hinunter. Ihre Fingernägel waren schmutzig. Aber sie war nicht aus der Erde gekrochen. Sie erinnerte sich vielleicht nicht an alles, aber so viel wusste sie. »Ich lag in keinem Grab.«
»Ich weiß.« Maylene schenkte zum dritten Mal ein und neigte sowohl die Whisky- als auch die Wasserflasche über das Glas. »Deswegen bist du auch so durstig. Das sind die Toten immer, wenn man nicht richtig auf sie aufgepasst hat.«
»Ich bin nicht …« Daisha starrte sie an. »Bin ich nicht.«
Maylene schnitt eine dicke Scheibe Brot ab, legte sie auf einen Teller und strich Honig darauf. Sie schob den Teller nach vorn. Ihre Fingerspitzen befanden sich unmittelbar neben dem Griff des Brotmessers. »Iss!«
»Ich … Wie kann ich tot sein, wenn ich Hunger habe?« Dennoch spürte Daisha, dass Maylene die Wahrheit sagte. Sie wusste Bescheid.
Mit einer Kopfbewegung wies Maylene auf das Glas und den Teller. »Iss, Kind!«
»Ich will nicht tot sein.«
»Ich weiß.«
»Ich möchte auch in kein Grab.« Unvermittelt stand Daisha vom Tisch auf. Der Stuhl polterte rückwärts zu Boden.
Maylene reagierte nicht.
»Aber Sie wollen das, oder?« Daisha begriff. Jetzt wusste sie, warum sie hergekommen war, wusste, warum die alte Frau ihr Whisky und Brot gab.
»Das ist meine Aufgabe.« Maylene stand auf. »Ich sorge dafür, dass die Toten an ihrem Platz bleiben, und wenn sie aufwachen, schicke ich sie zurück. Man hätte dich nicht außerhalb von Claysville lassen sollen. Du hättest nicht …«
»Getötet. Ich hätte nicht getötet werden sollen.« Daisha zitterte. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er voll laut summender Bienen, die ihre Gedanken durcheinanderwirbelten. »Das wollen Sie. Sie wollen mich umbringen.«
»Du bist bereits tot.«
Daisha konnte erst wieder denken, als sie über Maylene kniete und den harten Boden unter den Knien fühlte. »Ich will nicht tot sein.«
»Ich auch nicht.« Maylene lächelte. Aus einem Schnitt neben ihrem Auge rann Blut. »Aber du bist schon tot, Kind.«
»Warum Sie? Wieso bin ich zu Ihnen gekommen? Ich konnte nämlich nicht anders«, flüsterte Daisha.
»Ich bin die Totenwächterin. Das ist meine Aufgabe. Die Toten klopfen bei mir an, und ich bringe die Sache in Ordnung.«
»Sie schicken uns zurück.«
»Worte, Essen, Trinken«, murmelte Maylene. »Ich habe dir von allem gegeben. Hätte man dich hier begraben …«
Langsam trat Daisha weiter in den Raum hinein und beobachtete William dabei unablässig. Er kam ihr nicht bedrohlich vor, aber sicher war sie sich nicht.
»Er weiß nicht, was ich bin … der andere Bestatter. Er hat keine Ahnung von alldem«, vermutete Daisha. Sie tat noch einen Schritt vorwärts.
William wich nicht zurück, aber sein angespannter Körper verriet, welche Anstrengung ihn das kostete. Er zog die Augenbrauen zusammen. »Lass ihn aus dem Spiel!«
Daisha fuhr mit der Hand über die Lehne eines Stuhls, der neben ihr stand. »Ich kann nicht. Das wissen Sie doch, oder? Manches kann man sich nicht aussuchen.«
»Wir können es beenden, bevor noch jemand zu Schaden kommt.« William streckte die Hände aus und zeigte ihr, dass er unbewaffnet war. »Du willst doch niemandem wehtun, oder? Das wird aber geschehen, wenn du nicht mit mir kommst. Das weißt du.«
»Ich bin nicht böse«, flüsterte Daisha.
»Ich glaube dir.« Er streckte ihr die Hand entgegen und
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