Graveminder
aufwachen, was sie gewöhnlich nicht tun. Maylene hatte seit Jahren keinen mehr. Um dieses Mädchen hat sich niemand gekümmert. Aber man muss achtgeben, damit sie nicht aufwachen. Dieses Mädchen … sie muss irgendwo da draußen allein gestorben sein. Sie ist jung, nicht viel älter als siebzehn, schätze ich. Ziemlich schreckhaft.«
Byron dachte an das Mädchen, das er gesehen hatte. Zweimal. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen.
Ringsum wurde der Tunnel plötzlich enger, und dann standen sie wieder vor dem Lagerraum. Byron steckte die Fackel an die Wand zurück. »Ich glaube, ich bin ihr schon begegnet. Dem toten Mädchen.«
»Gut. Du und Rebekkah, ihr müsst zusammenarbeiten, um sie durch den Tunnel zu bringen. Ich bin mir nicht sicher, was Rebekkahs Aufgabe ist, sobald sie das Mädchen zu fassen bekommt, aber Maylene hat es ihr sicherlich beigebracht oder Anweisungen hinterlassen.« Mit einem Mal schlang William die Arme um Byron und zog ihn an sich. »Vergib mir meine Irrtümer, Sohn!«
Lange hielt Byron seinen Vater schweigend fest. »Ja. Natürlich. Wir müssen uns nur etwas einfallen lassen, wie wir Bek von …«
»Nein.« William gab ihn frei und trat zurück, tiefer in den Tunnel hinein. » Du musst es ihr sagen. Du bist ihr Undertaker.«
»Aber …« Byron verstummte, als er den Kummer in den Augen seines Vaters sah.
»Ich kann nicht mit dir kommen.« William trat einen weiteren Schritt zurück in die Schatten. »Du wirst dich tapfer schlagen.«
Der schier unerträgliche Ansturm von Gefühlen, mit denen er noch vor Sekunden gerungen hatte, war harmlos gewesen im Vergleich zu der Woge widerstreitender Emotionen, die ihn nun überrollte. Charlie hatte ihm erklärt, er könne sterben, indem er einfach dort blieb, und Byron hatte den Namen seines Vaters auf der Liste mit einem Enddatum gelesen. William hatte nie vorgehabt, in die Welt zurückzukehren. Byron sah seinen Vater an, das letzte lebende Mitglied seiner Familie. »Als wir dorthin gingen«, sagte er, »wusstest du, dass das deinen Tod bedeutet.«
»Ja. Undertaker und Graveminder. Es gibt sie nur einmal. Du wirst in der Lage sein, problemlos hin- und herzuwechseln, bis du deinen Nachfolger zu Charlie bringst. Sobald der nächste Undertaker unterschreibt …« William lächelte begütigend. »Es ist ein schmerzloser Tod.«
»Ich will nicht, dass du stirbst … Was ist, wenn ich dich durch das Tor zerre?« Byron war verzweifelt. Zu viel passierte und zu schnell. »Vielleicht …«
»Nein. Sterben würde ich trotzdem, aber es würde wehtun. Eine Herzattacke wahrscheinlich. Vielleicht ein Schlaganfall.« William hob die Schultern. »Im Grunde bin ich dort drüben gestorben. Als du unterzeichnet hast, hat der Schmerz aufgehört. Wenn du mich zur Rückkehr zwingst, wird der Schmerz wieder einsetzen, und ich sterbe trotzdem. Es kann immer nur ein Undertaker an Mister Ds Tisch sitzen. Du hast unterschrieben, und ich bin gestorben.«
Byron spürte, wie sich Williams Geständnis als Last auf seine Schultern legte. Er hatte seinen Vater getötet.
»Du hast es nicht gewusst«, sagte William, und sein Gesicht zog Byrons Blick auf sich. »Es war meine Entscheidung. Ich habe dich zu Mister D mitgenommen. Wir haben mit den Toten getrunken. Ab sofort kannst du das unbeschadet tun, bis zu dem Tag, an dem du den nächsten Undertaker zu seinem Tisch bringst. So ist es immer gewesen … Wenn du Glück hast, wirst du das eines Tages tun. Dein Sohn – oder dein Erbe, falls dein Nachfolger nicht von deinem Blut ist – wird allein durch diese Tür treten, und du bleibst zurück.«
»Mein Nachfolger?«
»Wenn du und Rebekkah – Graveminder und Undertaker – euch zueinander hingezogen fühlt, wenn ihr einen Nachfolger auswählen müsst, weil du sie heiratest oder Kinder mit ihr hast« – William hielt inne, als wäge er seine Worte ab –, »dann ist das ähnlich wie eine arrangierte Ehe. Wahre ihre Interessen. Sei weise.«
»Du und Mom und Maylene …« Byron konnte nicht weitersprechen.
»Wir wollten, dass ihr alle eine Wahl habt. Jede der beiden Mädchen hätte es werden können. Deswegen hast du dich auch zu beiden hingezogen gefühlt, aber Ellas Tod hat alles verändert.« Williams Miene wurde streng. Er runzelte die Stirn und hob das Kinn. »Ihr passt gut zusammen, du und Rebekkah.«
Diese Worte warfen einen Schatten auf Byrons Gefühle für Rebekkah. Was er wollte, was er empfand, sein Beschützerinstinkt,
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