Graveminder
seine Sehnsucht – all das war ihm einprogrammiert worden. Wie konnten sie nur? Doch zu diesem Zeitpunkt wollte Byron nicht darüber nachdenken. Das Nächstliegende zuerst! Wenn er darüber nachgrübelte, würde ihn der Zorn überwältigen, und so wollte er sich nicht von seinem Vater trennen. Später, wenn … mein Dad tot ist …, dachte er. Dann konnte er seinen Gefühlen immer noch freien Lauf lassen.
»Was soll ich … Wie stellst du dir deine Trauerfeier vor?« Byron kam sich töricht vor, seinen Vater danach zu fragen, aber das war im Augenblick wichtiger als alles andere. Manche Tote standen wieder auf, so viel hatte er begriffen. Er konnte nicht zulassen, dass sein toter Vater auf Erden herumstrich und Menschen anfiel.
»Wir Undertaker sterben meist nicht wie gewöhnliche Menschen. Graveminder auch nicht, es sei denn« – William erbleichte –, »sie schaffen es nicht. Manchmal gehen sie ins Land der Toten, aber das ist unvorhersehbar.«
»Du stirbst, weil Maylene tot ist.«
»Sie hat niemals den Platz deiner Mutter eingenommen, aber sie war meine Partnerin. Ich habe zwei Eide geleistet: einen Ann gegenüber und einen als Undertaker. Den gleichen Schwur, den du gerade abgelegt hast.« William sprach in behutsamem Ton, und doch lag eine deutliche Festigkeit in seiner Stimme, als er weitersprach. »Es steht mir nicht mehr zu, Bestatter zu sein. Es gibt eine neue Totenwächterin. Sie braucht ihren eigenen Undertaker und keinen alten Mann.«
»Aber …«
»Und Maylene soll in Frieden ruhen«, unterbrach William ihn. »Das hat sie verdient. Mein Tod ist leicht, aber sie ist unter Schmerzen gegangen, verzehrt von einem Toten, der nicht hätte umherstreifen dürfen. Die Sache muss in Ordnung gebracht werden. Das ist eure Aufgabe – deine und Rebekkahs Aufgabe.«
»Dad …«
»Geh zu Rebekkah! Öffne ihr das Tor! Sie muss Charlie treffen, bevor ihr weitere Schritte unternehmt.« William umfasste Byrons Arm. »Und dann bringst du sie nach Hause und legst die Toten dort zur Ruhe, wo sie hingehören.«
»Ich brauche dich.« Byron zog seinen Vater an sich. »Du bist der einzige Mensch, den ich habe. Meine ganze Familie. Vielleicht …«
»Das weißt du doch besser. Es gibt kein Vielleicht. Ich muss gehen.« Wieder umarmte William seinen Sohn. »In der großen Truhe in meinem Zimmer liegen Papiere und andere Unterlagen für dich. Den Rest … wirst du dir schon zusammenreimen. Vertrau deinem Instinkt! Denk daran, was du gelernt hast! Ich habe mein Möglichstes getan, um dich darauf vorzubereiten. Vergiss nie, wozu die Toten in der Lage sind! Du hast Maylenes Leiche gesehen. Das Mädchen, das mich am Arm verletzt und Maylene getötet hat, sieht harmlos aus, aber sie ist nicht harmlos.« Er suchte Byrons Blick. »Lasst nicht zu, dass sie aufwachen, aber wenn … dürft ihr keine Gnade walten lassen. Beschützt einander und die Stadt! Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Sorg dafür, dass ich stolz auf dich sein kann!« William wandte Byron den Rücken zu und trat den Rückweg in die Schatten an. Doch noch im Gehen klang seine Stimme deutlich durch die Leere. »Ich bin immer stolz auf dich gewesen, Byron.«
Und dann war er fort.
Tot.
Byron betrat wieder das Bestattungsinstitut, sein Zuhause, und geriet ins Taumeln. Dann fiel er auf die Knie, als ihn mit einem Mal das Gewicht des gerade Erlebten traf.
Mein Vater, dachte er.
Er wusste, was Trauer war. Er hatte sie beim Tod seiner Mutter, bei Ellas Tod empfunden, er hatte sie sein Leben lang bei anderen Menschen erlebt. Aber dies war etwas anderes. Sein Vater war die letzte Verbindung zu der ihm bekannten Welt gewesen, zu seiner Kindheit, zu seinen Erinnerungen. Alles, was Byron gewesen war – symbolisiert durch das Wort Sohn im Schriftzug der Familienfirma und in seinem Leben –, hatte sich verändert.
Tot.
Es gab keinen Sohn mehr. Nach Williams Tod war er jetzt Mister Montgomery.
Der Undertaker.
Schon als Kind hatte er gewusst, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Während seiner Ausbildung war er am College anderen begegnet, die dagegen aufbegehrten oder diesen Beruf nur ergriffen, weil es von ihnen erwartet wurde. Aber für ihn war das etwas anderes. Es war eine Berufung.
Byron stand vor dem noch immer offenen Schrank. Die Plastikflaschen und die vielen Farben der Flüssigkeiten darin waren ihm so vertraut wie die Sterilität und die Gerüche der Kellerräume im Haus seiner Kindheit. Einbalsamierungen waren
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