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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Marr
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und ließ den Blick von seinem gebeugten Arm zu seinem Gesicht schweifen.
    Er lächelte. »Ich möchte Sie hier lieber nicht allein lassen, Rebekkah. Die Straßen können gefährlich sein.«
    »Und Sie?«
    Mister D lachte. »Nun ja, ich ebenfalls, aber Sie sind doch hergekommen, um mich zu treffen, oder?«
    Was Byron ihr erzählt hatte, erfüllte sie mit keinem allzu großen Zutrauen gegenüber dem charmanten Mann neben ihr, aber ihre Instinkte rangen mit Byrons Worten. Sie wollte Mister D vertrauen, obwohl nichts dafür sprach. Beiläufig legte sie ihm die Hand auf den Unterarm. »Ich sehe keinen Grund, doch …«
    »Ah, der Teufel, den man kennt«, flüsterte er theatralisch. »Sie kennen mich. Ob wir uns schon begegnet sind oder nicht, meine Graveminder erkennen mich immer.«
    »Und gefällt Ihnen das, was Sie kennen?«
    Charles lachte. »Das, mein liebes Mädchen, werden wir noch feststellen. Kommen Sie! Ich zeige Ihnen unsere Welt.«
    Wieder blickte Rebekkah sich um. So weit das Auge reichte, war nichts zu erkennen, was im Entferntesten einem Tunnel ähnelte. Zu einer Seite zweigte ein hölzerner Steg ab, und nicht weit entfernt kreuzte eine Straße mit Kopfsteinpflaster. Links führten ein ausgetretener Pfad und eine befestigte Straße in vermutlich verschiedene Stadtviertel. Als sie sich umwandte und einen Blick zurückwarf, erschien dort ein Fluss. Es gab mehr Wege, als ihr zuerst aufgefallen war, und keiner hob sich sonderlich vom anderen ab. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann neben sich. »Sind Sie sicher, dass Byron zu Ihrem Haus kommt? Heute noch? Bald?«
    »Ganz bestimmt.«
    Unsicher, was sie sonst tun sollte – und schuldbewusst, weil sie neugierig auf die Welt war, die sich ringsum entfaltete –, nickte Rebekkah und schritt weiter neben Mister D her. Sie hoffte nur, dass sie keinen Fehler beging, und versuchte sich gewissenhaft an Byrons Warnungen zu halten. Dies war der Mann, der Einfluss auf Byron genommen hatte, der die Antworten auf Fragen, die ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen waren, bereits kannte. Und im Augenblick führte er sie aufmerksam durch eine Stadt, die sie sich nie hätte vorstellen können.
    Sie sah sich abwechselnd staunend um und fühlte sich dann wieder in ihren Jeans und ihrem T-Shirt seltsam unsicher. Oder vielleicht sehnte sie sich auch nach etwas anderem. Mister D trug einen gut geschnittenen Anzug, und die Frauen ringsum waren in vielfältige Gewänder gekleidet, die aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert stammten. Sie hörte das Rascheln der Stoffe, sah die leuchtenden Farben und die gedämpften Töne. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und sie berührt. Es kostete sie erstaunlich viel Mühe, dieser Versuchung zu widerstehen.
    »Das ist normal.«
    Sie schoss ihm einen Blick zu. »Was?«
    »Unsere Welt kommt Ihnen anders vor.« Er vollführte eine weit ausholende Geste. »Hier sind Ihre Sinne lebendig. Kein anderer Sterblicher erlebt diese Welt so wie Sie. Sie sind die Totenwächterin. Meine Totenwächterin. Sie gehören eher in diese Welt als in jede andere. Schatten und Asche, mehr finden Sie dort drüben nicht. Aber dies« – er nahm von einem Straßenhändler eine scharlachrote Mohnblume entgegen – »ist Ihr Reich.«
    Es war schwindelerregend, die Mohnblüte zu berühren. Die Blütenblätter fühlten sich an ihrer Wange wie Rohseide an, und die Farbe leuchtete zu stark, um real zu sein. Rebekkah schloss die Augen, um diese Intensität auszublenden.
    »Dort sind Sie nur ein Schatten dessen, was Sie in unserer Welt sind.« Mister D strich ihr mit der Blume über die Wange. »Der Tod ist ein Teil von Ihnen. Er ist die Zukunft, zu der Sie all die Jahre unterwegs waren. Der Weg, den unsere liebe Maylene für Sie wählte.«
    Als sie den Namen ihrer Großmutter hörte, schlug Rebekkah die Augen auf. »Ist sie hier?«
    »Sie hat gewartet, bis William zu ihr kam.« Mister D ließ die Mohnblume zu Boden fallen. »Er ist gestern eingetroffen.«
    »Und nun?« Rebekkahs Augen brannten von den Tränen, die sie nicht weinen wollte.
    »Selbst wenn sie hier wäre – Graveminder dürfen ihre eigenen Toten nicht sehen, mein Kind.« Mister D tätschelte ihr die Hand, die er immer noch in der Ellenbeuge hielt. »Ihr seid so durchschaubar.«
    Sie entzog ihm die Hand. »Wer – Menschen?«
    »Graveminder«, verbesserte er sie. »Obwohl Menschen oft ebenfalls durchschaubar sind. Sollen wir ein Weilchen spazieren gehen? Eine Vorstellung

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