Graveminder
die unsichtbare Barriere geworfen, die sich plötzlich zwischen der Tunnelöffnung und der grauen Welt der Toten aufgetan hatte.
»Charlie!«, brüllte er.
Natürlich kam niemand. Byron war sich ziemlich sicher, dass die Barriere Charlies Werk war. Was immer er war, er schien in der Totenwelt das Sagen zu haben.
Vergeblich schlug Byron mit den Fäusten auf die Wand ein, dann wandte er sich wieder dem Tunnel zu und erkundete ihn in der schwachen Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Der Gang ähnelte nun eher einer feuchten Höhle. Glitschige Wände, an denen phosphoreszierender Schimmel wuchs, erstreckten sich hinter ihm in die Finsternis hinein. Der Boden unter seinen Füßen war eine so glatte Steinplatte, als hätte ein Gletscher sie geformt.
Als er Rebekkah von der anderen Seite der Barriere her schreien hörte, fuhr er herum, ging mit den Fingernägeln auf die unsichtbare Wand los und kratzte über die Oberfläche, um eine Öffnung zu finden. Es nutzte nichts: Er saß außerhalb des Totenlands fest. Er konnte entweder warten oder umkehren, und Letzteres erschien ihm außerordentlich unklug.
Als Rebekkah erwachte, lag sie in einem gewaltigen Himmelbett. Sie blickte sich um, aber sie konnte nicht über das Bett hinaussehen, das von dicken Brokatvorhängen umgeben war. Sie streckte die Hand aus, ließ den Stoff zwischen zwei Fingern hindurchgleiten und genoss es, jeden einzelnen Faden und die Schwere des Stoffs zu spüren. Es ist bloß ein Vorhang, dachte sie. Trotzdem strich sie mit den Fingerspitzen über das Material – bis sie ein Lachen vernahm und hastig davon abließ.
»Die Stoffe sind ausgewählt worden, um eine Ihrer längst verstorbenen Vorgängerinnen zu erfreuen. Ich bin froh, dass sie Ihnen gefallen. Obwohl« – Charles zog eine Stoffbahn zurück und blickte auf sie herunter – »ich mich für den Grund entschuldigen muss, weshalb Sie in meinem Bett liegen. Ich hätte einen anderen Anlass vorgezogen.«
Sie wandte weder den Blick ab, noch ließ sie erkennen, dass sie die Anspielung verstanden hatte. Sie bestritt nicht, dass Charles gut aussah und dass er sie gerade vor unvorstellbar schweren Verletzungen bewahrt hatte. Er war auf eine Weise anziehend, wie sie sich den Teufel in Person vorstellte – falls es so jemanden gab: vollendeter Charme, verschmitztes Lächeln und ungezwungene Arroganz. Doch sie war sich nicht sicher, welches Spiel er trieb, und die Vorstellung, einen Toten irgendwie begehrenswert zu finden, kam ihr von Grund auf pervers vor.
Kurz lächelte Rebekkah ihm zu. »Ich bin am Leben und unverletzt … dank Ihnen«, sagte sie deshalb nur. Dann bewegte sie sich und zuckte zusammen. »Größtenteils unverletzt jedenfalls«, verbesserte sie sich.
»Ich versichere Ihnen, dass man sich um die Männer kümmern wird, Rebekkah.« Charles’ leicht provozierender Blick wich einer zärtlichen Miene. »Ich entschuldige mich für den Kratzer. Ich habe ihn vom Arzt säubern und verbinden lassen.«
Rebekkah griff unter das Laken, mit dem sie zugedeckt war, und betastete die Bandage, die um ihre Rippen gewickelt war und die schmerzende Stelle abdeckte. Dabei wurde ihr klar, dass sie über dem Verband kein Hemd trug. »Oh.«
»Mein Arzt ist schon länger verstorben.« Charles grinste ironisch. »Er weigert sich, neumodische Verbände anzulegen … Die Toten widersetzen sich oft hartnäckig und wollen sich nicht an die modernen Zeiten anpassen.«
»Bedeutet das, dass Sie zu Lebzeiten …« Sie betrachtete ihn, seine Seidenkrawatte, das passende Einstecktuch und den gut geschnittenen Anzug. »Ich habe keine Ahnung, wann das war«, gestand sie.
»In der großen Depression, den Dreißiger- und Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts … aber nein. Mich gibt es schon viel länger. Ich mag diese Ära nur gern.«
Sie presste das Laken an die Brust, setzte sich auf und bemerkte, dass auch ihre Beine nackt waren. »Wo sind meine Jeans geblieben?«
»Werden gewaschen. Hier ist andere Kleidung für Sie.« Er warf einen Blick über die Schulter und winkte jemanden heran. Eine junge Frau tauchte neben ihm auf. »Marie wird Ihnen beim Ankleiden helfen.«
Und dann, bevor sie ihn noch etwas fragen konnte, verneigte er sich und ging.
»Möchten Sie sich Ihr Kleid aussuchen, Miss?« Das Mädchen hielt einen Morgenrock in der Hand.
Einen Moment lang starrte Rebekkah Marie an. Sie wirkte wie ungefähr zwanzig. Ihr Haar war streng nach hinten frisiert und ihr Gesicht ungeschminkt. Ein
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