Graveminder
nüchterner schwarzer Rock mit hoher Taille fiel bis auf den Boden. Dazu trug sie eine blassgraue Bluse, um deren Kragen eine schwarze Krawatte geschlungen war. Unter dem Rocksaum blitzten schwarze Schuhspitzen hervor, und auf ihrem Scheitel saß ein graues Häubchen.
»Miss?« Das Mädchen hatte sich nicht gerührt.
Rebekkah schwang die Beine auf den Boden, glitt mit den Armen in den Morgenmantel und trat an den Schrank. »Ich kann mich selbst anziehen.«
Marie folgte ihr und öffnete den riesigen Schrank. »Bitte um Verzeihung, Miss, aber ich verstehe nicht.«
Rebekkah starrte die Kleider an. »Das sieht ja aus wie ein ganzer Kostümverleih.«
»Graveminder mögen schöne Stoffe, Miss. Der Herr bereitet Ihnen gern Freude, wenn er kann … und er kann auf jeden Fall.« Die letzten Worte sprach Marie schnell aus – und errötete dabei.
Als die junge Frau verschiedene Kleider am Saum herauszog, musste Rebekkah gegen den Drang ankämpfen, die Hand auszustrecken und darüberzustreichen.
Marie sprach weiter. »Ich weiß, Sie haben sie sich nicht ausgesucht, aber die Schneiderinnen stehen bereit. Wir haben allen Ihre Maße geschickt, aber hier hängen bereits einige hübsche Kleider.« Sie zog den Saum eines dunkelvioletten Kleids heraus. Über das Unterkleid fiel eine durchscheinende zweite Lage in blassem Lavendel. »Dieses hier würde Ihnen schmeicheln.«
Rebekkah gab nach und nahm den Stoff in die Hand. Das Unterkleid war mit winzigen Edelsteinen bestickt. Sie gab sich Mühe, nicht aufzuseufzen, und ließ den Stoff sinken. »Ich hätte gern eine Jeans. Für solche Garderobe habe ich keine Zeit.«
»Es tut mir leid, Miss«, sagte Marie. »Wie wäre es damit?«
Rebekkah verzog das Gesicht, griff in den Schrank und wühlte sich durch die wunderbaren Stoffe, die sie sich nie würde leisten und die sie zum Teil nicht einmal hätte benennen können. Schließlich entschied sie sich für ein grünes Kleid in zwei Lagen mit transparenten Ärmeln. Es bedeckte alles – von den Schultern bis zu den Handgelenken, von der Brust bis zu den Knöcheln. Es war weder vorn noch hinten tief ausgeschnitten, und es saß so locker, dass sie sich frei bewegen konnte. Alles in allem schien es ihr die einfachste und praktischste Wahl zu sein.
Eilig ließ Rebekkah den Morgenmantel fallen und schlüpfte in das Kleid. Marie schloss es, und Rebekkah wandte sich um und betrachtete sich in dem hohen Standspiegel. Im Schrank hatte das Kleid ganz bieder ausgesehen, doch als Marie die zweite Stoffschicht darüberbreitete, wirkte es nicht mehr so unschuldig. Die äußere Lage aus durchscheinendem Stoff und ebensolchen Ärmeln verengte sich knapp unter den Brüsten. Wie der Rock darunter fiel die äußerste Schicht gerade zu Boden, wo sich der Stoff um ihre Füße sammelte. Er würde wie eine kleine Schleppe hinter ihr herschleifen. Als Rebekkah sich bewegte, breitete sich die durchscheinende Lage seitwärts aus und enthüllte mehr von der grünen Seide des Kleids.
Während Rebekkah noch mit sich zu Rate ging, ob sie sich lieber ein unauffälligeres Kleid aussuchen sollte, brachte Marie ein Paar bequeme Slingpumps mit flachen Absätzen, die zum Kleid passten – und Rebekkahs Größe hatten.
Genau wie die Kleider – und wer weiß, was sonst noch, dachte Rebekkah.
Sie faltete den Morgenrock zusammen und legte ihn ans Fußende des Betts. »Bringen Sie mich bitte zu Charles!«
»Wir hätten noch Ohrringe und …«
»Bitte«, unterbrach Rebekkah die junge Frau.
Mit einem knappen Nicken, das eher eine angedeutete Verbeugung war als ein Zeichen der Zustimmung, öffnete Marie die Tür und bedeutete Rebekkah, ihr zu folgen. Schweigend begleitete das Mädchen sie in einen weitläufigen Ballsaal. Am anderen Ende führten Doppeltüren auf einen Balkon. Und dort stand Charles und wandte ihr den Rücken zu.
Er trat beiseite und wies auf einen Tisch auf dem Balkon. »Kommen Sie! Ich dachte, wir könnten heute Abend hier draußen essen.«
Rebekkah sah, dass auf einem weißen Tischtuch für zwei Personen gedeckt war. In einem silbernen Behälter wurde eine Weinflasche kühl gehalten, und daneben standen Kristallgläser bereit. Jedes freie Eckchen auf dem Balkon wurde von Orchideen- und Grünpflanzengestecken eingenommen, was den Eindruck eines kleinen, leicht verwilderten Treibhauses vermittelte.
»Marie, sagen Sie Ward, dass Miss Barrow und ich auf dem Ostbalkon sind.« Charles zog einen Stuhl vom Tisch weg. »Rebekkah?«
Rebekkah
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