Graveminder
die Menschen glauben, dass der Tod … dass er … Sie existieren?«
»Nein, meine Liebe. Der Tod existiert einfach.« Mit der Hand beschrieb er einen weiten Bogen. »Das hier existiert.« Er legte eine Hand auf die Brust, dorthin, wo sein Herz geschlagen hätte, wäre er wirklich ein Mensch gewesen. »Ich existiere einfach … und Sie, Graveminder, existieren, weil es mich gibt.«
30. Kapitel
Byron spürte, wie die Wand sich auflöste, stürzte nach vorn und landete auf allen vieren. Dabei hatte er in den letzten Sekunden nichts anderes getan als in den Stunden zuvor. Doch es war sinnlos, die Umstände zu hinterfragen: Er war frei und musste zu Rebekkah.
Er betrat die graue Totenwelt und hätte sich eine Landkarte gewünscht. Im Unterschied zu seinem ersten Ausflug ins Land der Toten wartete Charlie nicht auf ihn, und auch sein Vater konnte ihm den Weg nicht weisen. Dafür empfand er eine Furchtlosigkeit, die er beim ersten Mal nicht gespürt hatte. Es kam nur darauf an, sich zu vergewissern, dass seine Totenwächterin – Rebekkah – in Sicherheit war.
Byron packte die erste Person, die er sah, am Arm. »Wo steckt Charlie? Mister D? Wissen Sie, wo er ist?«
Der Mann grinste, schüttelte Byrons Hand ab und ging weiter.
»Schönen Dank auch«, brummte Byron.
Er sah sich um, aber das Areal rings um den Tunnel wirkte verlassen. Was jetzt? Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass die Straßen nicht so verliefen wie bei seinem ersten Besuch, was in Anbetracht der Zufallseindrücke, die er zurückbehalten hatte, nicht ganz unerwartet kam.
Byron folgte dem Mann, denn er fand, irgendeine Richtung sei besser als gar keine.
Dieser Teil der Totenstadt wirkte trostlos. In den Schaufenstern hingen Schilder mit der Aufschrift Geschlossen . Vorhänge waren zugezogen, die Gassen menschenleer.
»Wo sind denn bloß alle?«, fragte Byron.
Der Tote, dem er folgte, warf einen Blick zurück, gab aber keine Antwort. Sie bogen um eine weitere Ecke, und dann hielt der Mann eine Hand hoch. »Halt!«
Ein Laden schien geöffnet zu sein. Davor saßen drei Männer auf Stühlen, als wäre er ein Straßencafé oder eine Kneipe. Doch das traf nicht zu. Byron befand sich auch in keiner Goldgräbersiedlung aus dem neunzehnten Jahrhundert, obwohl zwei der drei Männer Cowboystiefel, zerbeulte Hüte und abgewetzte Jacken trugen.
Der dritte Mann unterschied sich von seinen Gefährten. Er war in zerfetzte Jeans und ein verwaschenes Fanshirt gekleidet. Leise murmelte er den anderen Männern etwas zu, und alle drei standen auf.
»Alicia?«, rief einer.
Eine raubeinig wirkende Frau in engen Jeans und einem halb zugeknöpften Herrenhemd trat in die Tür. Um ihre schlanken Hüften hing ein Pistolenholster, und um einen Schenkel hatte sie ein Messer geschnallt, lang wie ein kleines Schwert. Sie schob eine Hüfte vor. »Kommen Sie herein, Undertaker!«, forderte sie den Ankömmling auf.
»Ich muss Charlie finden …«, begann Byron.
»Und das sollen Sie auch, aber es ist besser für alle, wenn Sie zuerst hier haltmachen.« Alicia warf den Männern einen Blick zu. »Jungs? Auf eure Plätze!«
Ein Mann nickte und stellte sich an die Ecke. Ein anderer ging in die entgegengesetzte Richtung. Der dritte setzte sich, legte die Stiefel auf den Tisch und schob den Hut so zurecht, dass er sein Gesicht verbarg.
Byron hatte keine Ahnung, ob er in eine Falle getappt war. Er war durchaus in der Lage, sich zu verteidigen, doch er war kein Dummkopf. Die anderen waren in der Überzahl – und es konnte sich als unklug erweisen, gegen mehrere bewaffnete Männer zu kämpfen.
Er ging zur Tür und blieb vor Alicia stehen. »Ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil.«
»Auf mehr Arten, als Sie ahnen, Undertaker, aber Sie sind uns willkommen.« Alicia bedeutete ihm, näher zu kommen, trat aber nicht beiseite, sodass er sich unangenehm dicht an ihr vorbeidrücken musste.
Gleich hinter der Tür, in dem dunklen Laden, musste Byron sich ins Gedächtnis rufen, dass er nicht in die Vergangenheit gereist war. Er war in einem altmodischen Gemischtwarenhandel gelandet. Hinter der Theke standen in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, Büchsen mit verschiedenen Nahrungsmitteln und anderen Waren. Eine riesige Registrierkasse stand auf einer Holzplatte, unter der sich eine Vitrine aus Holz und Glas befand. Darin lagen Pistolen und Messer friedlich neben Taschenuhren und Medaillons.
Alicia lehnte sich an seinen Rücken. Ihr Kinn lag auf seiner Schulter, und
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