Gray Kiss (German Edition)
fühlen, dass die Geister die Öffnung in dem Schutzwall bemerkt hatten. Sie huschten an uns vorbei wie eine kühle Brise. Ich nahm sogar ihre Freude über die neu gewonnene Freiheit wahr.
„Spürst du das auch?“, wisperte ich.
„Ja.“ Bishop presste mich enger an sich, ließ aber die Barriere nicht aus den Augen.
Die Seelen aller Menschen, die seit Errichtung der Barriere in der Stadt gestorben waren, waren bis jetzt gefangen gewesen. Sie hatten sich in dem leer stehenden Haus gesammelt und dort auf den Moment gewartet, der ihnen die Freiheit schenken würde. Jetzt war er da.
Ich drehte mich zu Bishop um, als mir plötzlich etwas sehr Wichtiges einfiel. „Könntest du nicht auch jetzt raus aus der Stadt, den Schutzwall durchschreiten? Du könntest wieder zurück in den Himmel. Man könnte dich heilen.“
Bishop betrachtete den Spalt, dessen Ränder hell leuchteten. „Da ist nicht so einfach.“
„Wieso nicht?“
„Unsere Mission ist noch nicht vollendet, und solange das nicht erledigt ist, haben sie mich auch nicht auf dem Schirm. Mit meiner Seele in mir bin ich für den Himmel praktisch unsichtbar. Im Klartext: Ich gehe nicht. Weder verlasse ich die Stadt, noch dieses Problem, noch dich.“ Sowie ich wieder erwidern wollte, schaute er mich eindringlich an. „Keine Widerrede. Meine Entscheidung steht fest. Hast du verstanden? Ich werde nirgendwo hingehen, bis das hier nicht vorbei ist.“
Ich seufzte. „Sturkopf.“
„Erinnert dich das vielleicht an jemanden?“
„Ja, an deinen Bruder.“
Er schnaubte verächtlich, dann schaute er mich ernst an. „Du darfst niemandem von dieser Sache hier erzählen.“
„Kraven weiß bereits, was mit mir los ist.“
„Aber von dem hier hat er keine Ahnung. Das bleibt unser Geheimnis. Versprich mir, dass du ihm nichts sagen wirst.“
„Noch ein Geheimnis?“
„Das ist wichtig.“
Ich nickte. Mir war die Kehle wie zugeschnürt. „Gut, ich verspreche es.“
Wir verfolgten, wie sich die Spalte auf einmal wieder von selbst verschloss. Die Seelen waren befreit und konnten nun ins Jenseits aufbrechen.
Wir dagegen saßen bis auf Weiteres hier fest.
Nachdem wir wieder bei mir zu Hause waren, lungerte Bishop in der Nähe der Eingangstür herum, als wäre er sich nicht sicher, ob er überhaupt hereinkommen solle.
„Ich muss mich mit den anderen treffen“, erklärte er. „Und du musst dich sicher mal ausruhen. Das waren ein paar sehr anstrengende Tage.“
„Und das ist eine große Untertreibung.“
Doch erst musste ich noch etwas loswerden, das mir auf der Seele lag. Anders als Bishop war ich nämlich kein großer Geheimniskrämer.
„Ich habe deine Hinrichtung erlebt“, sagte ich leise.
„Was?“ Er schaute mich geschockt an.
„Als ich dich berührte … Als der Engel Besitz von dir ergriffen hatte. Ich habe gesehen, wie du gehenkt wurdest.“ Ich schluckte schwer und betrachtete den bunten Teppich, den meine Mutter im Flur hingelegt hatte, weil es dort sonst zu kalt war. „Du dachtest, du hättest es verdient. Und sowie es dann so weit war, dauerte es lange, bis du sterben konntest. Ich fühlte alles so, wie du es damals fühltest. Es war schrecklich.“
Seine Miene verfinsterte sich, und er wandte sich von mir ab. „Samantha, ich wünschte, du hättest das nicht mitbekommen müssen.“
Er trat auf mich zu und nahm mich in seine Arme. „Diese vielen schlimmen Dinge damals … Du lässt sie so nah an dich heran, deswegen sind sie noch immer so plastisch und lebendig. Es gibt so vieles, das du mir über dich nicht erzählst, aber …“
„Aber was?“
Ich holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Aber ich glaube, ich weiß jetzt, wie du bist.“
Er lachte beinahe. „Ach ja?“
„Ich habe keine Angst vor dir, trotz allem, was ich gesehen und erfahren habe. Ich kenne dich, Bishop, und ich finde dich wunderbar.“
Wieder wandte er den Blick ab, doch ich legte die Hände um sein Gesicht und drehte seinen Kopf wieder zu mir. „Und was auch immer in der Vergangenheit war - es ist mir egal. Das Einzige, was mich interessiert, ist, wer du jetzt bist, was du jetzt tust, wie du mich jetzt anschaust. Alles andere kann mir gestohlen bleiben!“
Fragend blickte er mich an. „Ich dachte heute Nacht, ich würde dich verlieren.“
Mir tat mein Hals weh. „Dito. Aber ich lebe noch. Und du auch. Wir haben beide eine zweite Chance erhalten.“
Ich ließ ihn los und begann, nervös durch den Flur zu laufen.
Er sah mir eine Weile zu,
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