Gray Kiss (German Edition)
dahinschwand. Der Kuss des Todes.
Sie hatte keine Chance gehabt.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und versuchte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, irgendetwas. Ich hatte beschlossen, meiner Mutter zu erzählen, dass Cassandra eine Schulfreundin war, deren Eltern für ein paar Tage verreist waren und sie Angst hatte, alleine zu Hause zu bleiben.
Nicht perfekt, aber ausreichend. Meine Mutter würde es glauben. Sie glaubte viele Dinge, ohne Fragen zu stellen.
Ich ließ Cassandra als Erste reingehen und warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, sowie sie an mir vorbeihuschte. Sie betrachtete alles genauestens, gerade so, als wollte sie hinterher einen Bericht darüber schreiben. Die Bambusjalousie am Fenster, der bunte Läufer vor der Haustür. Die Bilderrahmen an der Wand, mittlerweile ohne Fotos von meinem Vater.
Meine Mutter tat so, als würde ihr die Scheidung nichts ausmachen, aber ich wusste, dass sie sie nicht gewollt hatte. Mein Vater war nicht nur nach Europa gegangen, weil er in die Londoner Filiale seiner Anwaltskanzlei wechselte. Er zog um, weil er mit einer schönen blonden Praktikantin, die halb so alt war wie er, zusammen sein wollte. Unser E-Mail-Kontakt war eingeschlafen, und ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal telefoniert hatten.
Ich versuchte, meiner Mutter nachzueifern und mich mit solchen Sentimentalitäten gar nicht aufzuhalten. Doch ich verstand jetzt Moms Ängste.
Der Anblick der aufgereihten Weinflaschen, die zum Altglascontainer gebracht werden mussten, ließ mich zusammenzucken. Cassandra schien es nicht aufzufallen, mir dagegen schon. In dieser Woche waren es deutlich mehr als sonst. Und es waren immer zu viele.
Ich war nicht die Einzige in der Familie mit einer wachsenden Abhängigkeit von etwas Ungesundem.
„Sam, wie schön, dass du zu Hause bist“, begrüßte mich meine Mutter herzlich, nachdem wir das Wohnzimmer betreten hatten. Es überraschte mich nicht, dass sie ein großes Glas Weißwein in der Hand hielt. Auf ihrem Schoß lag ein Stapel Papiere, den sie durcharbeitete. Sie war Immobilienmaklerin und gut in ihrem Job. Sie arbeitete viel, sieben Tage die Woche. Früher beschwerte ich mich darüber - bei mir, bei ihr, bei jedem, der mir zuhörte - wie besessen sie von ihrem Job und vom Geld verdienen war und dass sie keine Zeit für mich hatte.
Nachdem ich erfahren hatte, dass ich adoptiert worden war, hatte sie sich stark um unsere angeknackste Beziehung bemüht, indem sie dafür sorgte, dass wir jeden Tag Zeit zusammen verbrachten. Sie versicherte mir, dass sie immer ein offenes Ohr hätte, und wenn ich ein Problem hätte, wäre sie jederzeit für mich da, ganz egal, was. Und trotzdem standen mehr Weinflaschen neben der Tür als sonst.
Stress schlug sich eben in verschiedenen Verhaltensweisen nieder.
Ich war gereizt, allerdings wusste ich, dass ich mich zurückhalten musste. Das hier war der einzige Ort, an dem ich noch ich selbst sein durfte. Mein Zuhause war mein Maßstab für Normalität.
Und jetzt war ein Engel hier - noch dazu ein Engel, der nie ein Mensch gewesen war. Daran war nun wirklich nichts normal. Meine Mutter sah Cassandra an.
„Hi, Mom“, sagte ich und räusperte mich. „Das ist Cassandra, eine Freundin von mir.“
„Schön, dich kennenzulernen, Cassandra. Du kannst mich Eleanor nennen.“ Meine Mutter erhob sich und kam zu uns herüber, um Cassandra die Hand zu schütteln. Sie lächelte sie freundlich an. „Ich freue mich sehr, dass Sam neue Freunde gefunden hat. Nach dem, was mit Carly passiert ist, hatte sie keine schöne Woche hinter sich.“
Bei der Erwähnung meiner besten Freundin stiegen mir die Tränen in die Augen. Auch Mom war eine der Personen, die an die Version „mit ihrem Freund durchgebrannt“ glaubten. Für die meisten war es das typische Verhalten eines rebellischen Teenagers, doch Mom hatte mich weinen sehen und hatte mitgekriegt, wie schwer mich der Verlust von Carly traf. Sie dachte allerdings, ich hielt Carly für eine Verräterin an unserer Freundschaft.
Sie hatte unrecht. Es war eine echte Tragödie.
„Ganz meinerseits“, erwiderte Cassandra. „Sie haben ein sehr hübsches Haus.“
„Danke.“
Waren wir nicht alle wunderbar nett zueinander?
„Ich … ähm … wollte dich um einen Gefallen bitten“, begann ich meinen Satz, um ihr meine Geschichte aufzutischen. Doch Cassandra übernahm, ohne dass ich noch ein Wort sagen konnte. Sie schüttelte meiner
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