Gray Kiss (German Edition)
unterwegs waren. „Ich habe dich gesucht, Seth.“
„Manchmal bin ich schwer zu finden. Wir gehen alle ab und zu verloren.“
„Du muss unbedingt jemanden kennenlernen. Einen anderen gefallenen Engel. Er hat eine Methode gefunden, um mit … seiner Seele zu leben.“ Eine Methode, die mich genauso quälte wie ihn selbst. „Doch ich muss wissen, ob es nicht etwas anderes gibt, das er tun kann. Hat dir damals etwas geholfen, als du ein frisch gefallener Engel warst?“
Seth grinste und zeigte seine weißen, perfekten Zähne, die so überhaupt nicht zu seinem ungepflegten, schmuddeligen Gesicht passten. „Vergiss ihn, mein schöner Stern. Am Ende spielt er keine Rolle. Bald ist die Zeit gekommen - sie ist zum Greifen nah.“
„Die Zeit für was?“
„Spürst du nicht, wie nah du dran bist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wovon redest du? Woran bin ich nah dran?“
Seth drehte den Kopf und schaute mich an wie betäubt. „An deinem Tod natürlich.“
17. KAPITEL
Ich wich zurück. „An meinem Tod?“
„Es steht auf dir geschrieben wie ein Gedicht.“ Der Wahnsinn funkelte in seinen Augen. „Es ist dein Schicksal, mein schöner Stern. Ein notwendiger Schritt auf einer längeren Reise.“
Der Engel hatte meine größte Angst in Worte gefasst und mich in dieser kalten Nacht damit konfrontiert, als ob es nichts anderes wäre als eine beliebige Beobachtung.
„Wie kann ich den Prozess aufhalten?“, wollte ich wissen.
„Überhaupt nicht.“
„Ich werde mich wehren!“
„Du kannst es versuchen. Aber du wirst scheitern.“
Ich ballte die Hände zu Fäusten, so sehr, dass sich meine Fingernägel in die Handflächen bohrten. Ich konzentrierte mich auf diesen Schmerz und die Schmerzen in meinem Knöchel. So konnte ich klarer denken.
Seth war verrückt.
Er sagte verrückte Sachen.
Und doch … Mir war durchaus bewusst, dass die Stase unaufhaltsam auf mich zukam, so wie bei Stephen. Die Stase, das dunkle und tödliche Gespenst in der Ferne, kam jeden Tag näher.
„Geh zurück zu deinem kleinen Engel und deinen Freunden“, schlug Seth vor und stand auf. „Genieß die Zeit, die dir noch bleibt.“
Ich erhob mich ebenfalls und hielt ihn am Arm zurück. „Warte.“
Dann sah ich ihn an und versuchte, meine Nexus-Fähigkeit, die Gedanken von Engeln und Dämonen lesen zu können, bei ihm anzuwenden. Es gab dafür kein Handbuch, aber ich wusste ja, dass ich es konnte.
Und … Ja! Ich spürte etwas. Da war etwas, etwas, das auf dem Grund eines dunklen Gewässers hell glänzte. Ich konnte es nur nicht erreichen.
Mein Gegenüber konnte mich aus seinen Gedanken verbannen, wenn er sich anstrengte. Trotzdem konnte ich die Blockade durchbrechen, wenn ich genug Zeit hatte. Ich stellte sie mir vor wie eine große, solide Wand aus Eis. Eis konnte Risse bekommen und zerbrechen.
„Du verbringst zu viel Zeit damit, dich auf unwesentliche Dinge zu konzentrieren, mein schöner Stern. Das ist dein Verderben. Du bist besessen von deinem gefallenen Engel, dabei ist er nicht der Einzige, der fiel. Das Mädchen stürzte in die Tiefe und der Tod nahm sie mit sich, schloss sie in seine Arme.“
Ich hielt den Atem an. „Redest du von Julie? Julie Travis? Du weißt, was in der Mall passiert ist? Warum hat sie das getan? Gab es einen Grund für ihren Selbstmord?“
„Es gibt für alles einen Grund.“ Seth schaute sich um, und die dunkle, leere Straße erweckte den Eindruck, als wären wir die beiden einzigen in dieser Stadt, dabei tobte nur einen Häuserblock von hier entfernt das Leben. „Irgendetwas wurde hier freigelassen, irgendetwas, das mehr ist als nur die Grays. Es verschlingt alles, was gut ist. Und die Verlorenen wandern, ihre Zahl steigt mit jedem Tag. Sie suchen nach einem Ausweg, so wie wir alle. Doch sie sind gefangen, so wie wir alle. Aber das weißt du bereits - denn du weißt viel mehr, als du denkst.“
Wieder konnte ich ihm nicht folgen. Dabei hatte er doch eben fast vernünftig geklungen! „Was weiß ich bereits? Bitte lass doch die Spielchen, Seth.“
„Das Leben ist ein Spiel, mein schöner Stern. Mit zeitlicher Begrenzung. Und jetzt ist deine Zeit da, dein Schicksal zu akzeptieren.“
„Wenn mein Schicksal der Tod sein soll, nehme ich es nicht an.“
„Dir bleibt keine Wahl.“
„Man hat immer eine Wahl!“ Ich war so wütend, dass ich mich selbst gegen den Tod stellte. Noch einmal schaute ich Seth tief in die Augen und konzentrierte mich mit aller Macht. Er wusste Dinge. Und ich
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