Grayday
Mutter hierher bringen?«
»Das weiß ich nicht. Warum? Wollen Sie denn, dass sie herkommt?«
»Nein!«, fauchte sie geradezu. »Aber sie wird kommen. Sobald man ihr sagt, dass ihr wunderbarer Film in Gefahr ist, kommt sie her.«
Gaby wich zurück.
Leela ließ ihren Arm los und blickte wieder über den See. »Es ist sicher sehr kalt«, sagte sie gedankenverloren und suchte sich einen Weg vorwärts über die Steine. Gaby dachte, dort würde sie stehen bleiben, aber sie ging weiter und machte einige Schritte hinaus ins Wasser. Ihr Nachthemd bauschte sich um ihre Knie. Voller Angst stürzte Gaby ihr nach.
Leela lachte. »Ganz schön kalt!« Sie verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht und streckte die Arme aus, um sich zu fangen. Im Wasser blitzte etwas golden. »Mist, ich habe meine Zigaretten fallen lassen.«
»Kommen Sie zurück«, bat Gaby. Sie hatte das Gefühl, dass Leela drauf und dran sei weiterzugehen, dass sie immer weiter hinausgehen würde, bis sie unter der Oberfläche verschwände. Stattdessen drehte sie sich um und patschte zurück ans Ufer. Als sie es auf die sumpfige Rasenfläche zurück geschafft hatte, tanzte sie mit einem Mal ein paar Schritte und schlängelte ihre ausgestreckten Arme in einer geschmeidigen Bewegung, während sie ein paar Takte eines Liedes dazu summte.
»Ich habe die Nummer gelernt«, sagte sie. »Das zumindest habe ich für sie getan.«
»Ihnen muss eiskalt sein«, sagte Gaby. Das klatschnasse Nachthemd klebte dem Mädchen an den Beinen. »Vielleicht sollten wir wieder reingehen.«
»Die sind alle Arschlöcher, verstehen Sie?«
»Wer?«
Leela machte eine Handbewegung zu dem Hotel. »Sie alle. Außer ihren Superklassekarrieren ist denen alles schnuppe. Und ganz sicher bin ich denen total egal.«
Gaby wusste nicht, was sie sagen sollte. Leela zitterte und rieb sich die Hände. »Na schön«, sagte sie, »ich geh jetzt schlafen. Hier kann man MTV empfangen. Sehen Sie gern MTV?« Gaby zuckte die Achseln. »Ich schon. Man kann anderen bei Tanzauftritten zusehen, statt selber tanzen zu müssen.« Sie ließ ein kurzes, halbherziges Lachen hören, als wollte sie deutlich machen, dass es sich um einen Scherz handelte. Wie jung sie noch ist, dachte Gaby, mit ihrem linkischen Gepaffe und ihrer Kindergartensprache. Eher wie zwölf als wie einundzwanzig.
Leela ging ein paar Schritte über den Rasen, dann drehte sie sich um.
»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Erzählen Sie denen da drin nicht, dass Sie mich gesehen haben.«
»Selbstverständlich.«
Gaby blickte ihr nach, wie sie über den Rasen marschierte und im Haus verschwand. Sie blieb allein zurück, in eine Stille eingehüllt, die an den Rändern vom Geräusch des Wassers ausgefranst war, das zu ihren Füßen plätscherte.
Als Leela02 von der Bildfläche verschwand und Muster von Leela09 bei der Virugenix GSP einzutreffen begannen, wurden die Junihitzerekorde an mehreren Orten rund um die Welt gebrochen. Es gab ein paar spektakuläre Ereignisse – die zeitweilige Schließung der Börse (Bolsa de Valores) in Lima, das Fiasko mit den Eintrittskarten für die Olympiade –, und überall klagte man über immer neue Auswirkungen des Virus: eine weltweite Zunahme der Frustrationen, eine Verkalkung der globalen Arterien. Simple Aufgaben nahmen neue Schwierigkeitsgrade an. Man wollte eine Eisenbahnfahrkarte bestellen, aber die Website war außer Betrieb. Die Dienststelle der Sozialversicherung war außerstande, deine Forderung zu bearbeiten. Dein neuer Fernseher wurde an die Crackheads eine Treppe tiefer geliefert, aber nach den Unterlagen der Firma hattest du den Empfang quittiert, Sir, Sie müssen ihn bekommen haben. Störungen, Schließungen, vorübergehende Einstellungen und Verspätungen, alles ereignete sich in der drückenden Hitze. In New York City wurden die Elektroventilatoren knapp, aber ob es einfach an der erhöhten Nachfrage lag oder am Containertruck, der irgendwie auf dem New Jersey Turnpike verloren gegangen war, konnte niemand mit Sicherheit sagen.
Über dem Golfplatz Desert Creek in Dubai sprühten hohe Stahlmasten, an deren Spitze fächerartig Düsen angebracht waren, einen feinen feuchten Nebel in die Luft. Am Boden hörte man ein regelmäßiges Pochen, das Tuck-tuck von 8000 Rasensprengern, die 80 Hektar Bermuda-Zwerggras bewässerten, eine feste Matte lebhaften Malkastengrüns, die wie ein Belag die rote Haut der Wüste überzog. Darunter verliefen – Venen und Arterien
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